Ikea für die Welt

von Olivier Bailly, Jean-Marc Caudron und Denis Lambert

Billy-Regale sind Massenware, und doch wecken sie persönliche Anhänglichkeiten. Dabei lässt der Möbelmulti Ikea – wie die meisten internationalen Großkonzerne auch – in Niedriglohnländern produzieren, wo sich ihre Subunternehmer um die medienwirksamen ökologischen und sozialen „Iway-Standards“ nicht zu scheren brauchen.

Dem schwedischen Möbelhaus Ikea geht es gut. 410 Millionen Kunden in aller Welt, 175 Millionen unters Volk gebrachte Kataloge (im laufenden Jahr, in 27 Sprachen) und rasant steigende Umsätze: 1994 setzte der Konzern 3,3 Milliarden Euro um, 2005 waren es stolze 14,8 Milliarden Euro. Seit ein paar Jahren dehnt sich das Unternehmen in zwei lange Zeit unzugängliche Länder aus: Russland und China sind auch für Ikea gigantische Wachstumsmärkte.

In der hausinternen Firmenzeitschrift Read Me heißt es: „Unser Ziel ist es, möglichst vielen Menschen ihren Alltag angenehmer zu gestalten. Dazu müssen unsere Filialen immer mehr Produkte an immer mehr Kunden verkaufen.“[1]Der Weg zum Glück der Menschen führt für Ikea über das Einkaufen.

Erstaunlich genug, dass es ausgerechnet dem Möbelmulti Ikea, der wie kein anderer für die Kommerzialisierung und Vereinheitlichung der Wohnungsinterieurs steht, bisher noch immer gelungen ist, sich aus der Schusslinie von Verbraucherschützern, Dritte-Welt-Aktivisten und Umweltschutzorganisationen herauszuhalten. Das liegt gewiss auch daran, dass Ikea eine besondere enge Beziehung zu seinen Kunden aufgebaut hat. Und dies dank unschlagbarer Preise, dank Kinderbetreuung und Billigrestaurants innerhalb seiner Möbelhäuser und dank eines Gesamtkonzepts, das es den Kunden ermöglicht, alles rasch zu finden – und vor allem auch solche Dinge, von denen man vor dem Einkauf keineswegs dachte, dass man sie braucht.

Die selige Allianz zwischen dem Unternehmen und seinen Kunden lässt sich durch zahllose Anekdoten illustrieren. So erklärte ein Mitglied des Stadtrats im britischen Stockport 2004: „Ikea innerhalb der eigenen Kommune zu haben, ist das reinste Paradies.“[2]Eine ähnliche Begeisterung spricht aus einem Aufruf, den Einwohner der französischen Kleinstadt Mougins verfassten: „Wenn auch Sie es leid sind, mit dem Auto zwei Stunden und 200 Kilometer (hin und zurück) fahren zu müssen, um bei Ikea einzukaufen, nutzen Sie jetzt die (vielleicht letzte) Chance! Helfen Sie mit, dass in den französischen Seealpen ein Ikea aufmacht.“[3]

Tödlicher Andrang beim unmöglichen Möbelhaus

Ist das nicht fabelhaft? Menschen, die eine Petition einreichen und sich aktivieren lassen, weil es im Umkreis von 100 Kilometern keinen Ikea gibt.

Wenn dann tatsächlich ein Ikea in Reichweite aufmacht, kann es zu dramatischen Szenen kommen. Zur Eröffnung eines Ikea-Markts in Saudi-Arabien am 1. September 2004 versprach das Möbelhaus den ersten 50 Kunden einen Scheck von 150 Dollar. Die Folge war ein brutales Gedränge. Die Bilanz: zwei Tote, sechzehn Verletzte, zwanzig Kunden mit Kreislaufkollaps. Ein Leben war in diesem Falle 150 Dollar wert, Lieferung und Aufbau nicht inbegriffen.

Wie lässt sich die weltweite Begeisterung für Ikea erklären? Neben den niedrigen Preisen beruht der Erfolg des Unternehmens auf dem ökologischen und sozialen Image, das sich der Multi zulegen konnte.

Seit dem ersten Auftrag an einen ausländischen Zulieferbetrieb – das war ein polnischer Betrieb im Jahre 1961 – verlagert der Konzern Teile seiner Produktion ins Ausland, auf nimmermüder Suche nach billigen und gefügigen Arbeitskräften. In jüngster Zeit nimmt der Anteil der nach Asien verlagerten Produktion stetig zu. Inzwischen ist China, das ja nicht gerade für die Respektierung von Arbeitnehmerrechten bekannt ist, an Polen vorbeigezogen und mit 18 Prozent der Ikea-Produkte zum größten Lieferanten des Konzerns aufgestiegen. Insgesamt stammen 30 Prozent der „schwedischen Qualitätsprodukte“ vom asiatischen Kontinent.[4]Nach Angaben der britischen Sonntagszeitung The Observer stieg der Anteil der Entwicklungsländer an der Ikea-Produktion im Zeitraum zwischen 1997 und 2001 von 32 auf 48 Prozent.[5]

Von Anfang an verfolgte das Unternehmen das Ziel, seine Möbel und Haushaltswaren „zu extrem niedrigen Preisen“ anzubieten. Der Gründer des Unternehmens, Ingvar Kamprad, schrieb schon 1976 in seinem „Testament eines Möbelhändlers“: „Wir müssen alles daransetzen, die Preise auf dem niedrigsten Niveau zu halten. Das stellt enorme Anforderungen an alle unsere Mitarbeiter. Ohne eine strikte Begrenzung der Kosten werden wir diesen Auftrag niemals erfüllen können.“[6]

Doch anders als Ikea behauptet, wurden und werden die niedrigen Preise mit erheblichen sozialen Kosten erkauft. In den Jahren von 1994 bis 1997 wurde das Unternehmen in drei deutschen und schwedischen Fernsehreportagen beschuldigt, in Pakistan, Indien und Vietnam wie auch auf den Philippinen Kinder unter völlig unakzeptablen Bedingungen zu beschäftigen.7

Solche Formen der Ausbeutung durch Ikea sind keineswegs nur auf Asien beschränkt. Als der Internationale Verband der Bau- und Forstarbeiter (IFBWW) 1998 in Rumänien erbärmliche Arbeitsbedingungen aufdeckte, drohte der Gewerkschaftsverband mit einem Boykott. Das führte am Ende zu einer vertraglichen Vereinbarung zwischen dem IABWW und dem Möbelmulti (siehe Kasten).

Seit 2000 praktiziert Ikea einen Verhaltenskodex zum „Einkauf von Einrichtungsprodukten“, der auf der Unternehmenswebsite unter der Überschrift „Verantwortung für Gesellschaft und Umwelt“ erläutert wird. Dieser sogenannte Iway definiert als soziale Mindestanforderung für Zulieferer, dass diese keine Kinderarbeit einsetzen. Punkt sieben bezieht sich auf „Gesundheit und Sicherheit“ und verlangt, dass die Beschäftigten die jeweils angemessene Schutzkleidung tragen müssen und dass es ihnen erlaubt sein muss, sich gewerkschaftlich zu organisieren oder sonstige Vereinigungen zu bilden.

Auch Zuliefererbetriebe von Ikea müssen sich an diese Zusagen halten. Jegliche Diskriminierung nach Geschlecht, Herkunft oder sozialem Status wird nicht toleriert. Die Löhne dürfen nicht unter dem gesetzlichen Mindestlohn des betreffenden Landes liegen, die Wochenarbeitszeit darf die gesetzliche Höchstgrenze nicht überschreiten.

Es mag sonderbar erscheinen, dass ein Unternehmen sich mit einem Verhaltenskodex eigens darauf verpflichtet, die in den Produktionsländern geltenden Gesetze einzuhalten. Das ist so, als würde jemand feierlich erklären, er wolle sich in Großbritannien an das Linksfahrgebot halten.

Aber vielleicht hat der Iway dennoch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Zulieferbetrieben positiv beeinflusst? Die Kinderarbeit (auf die man im Westen sehr allergisch reagiert) hat Ikea in seinen „eigenen“ Betrieben ohne Zweifel eliminiert, auch wenn der Iway sich auf die lokalen Gesetze bezieht und erklärt: „Nationale Gesetze können gestatten, dass Personen von 13 bis 15 oder von 12 bis 14 Jahren für leichte Arbeiten herangezogen werden.“[8]

Was die Organisationsfreiheit der Beschäftigten oder die Bezahlung von Überstunden betrifft, liegen die Dinge schon etwas anders. Auf einer Reise in ein Dorf nahe der indischen Textilstadt Karur im Mai 2006 versuchten wir, mit Beschäftigten eines Ikea-Zulieferers zu sprechen. Die etwa dreißigjährige Shiva[9]war bereit, die Fragen der westlichen Besucher zu beantworten, doch ihre Mutter, eine alte, weißhaarige Inderin, machte sich Sorgen, Shiva könnte ihre Arbeit verlieren. Ihr Lohn ist die einzige Einkommensquelle der Familie, zu der neben den beiden Frauen noch der 15-jährige Sohn der Arbeiterin zählt.

Doch diese Befürchtung war etwas übertrieben. Die junge Frau übt gar keine Kritik an ihrem Arbeitgeber. Sie spricht von Teepausen, Schutzbrillen und Arbeitshandschuhen, lobt die gesunde Arbeitsumgebung. Und all das trifft auch zu. „Ikea bietet vergleichsweise gute Bedingungen, daran besteht kein Zweifel“, meint auch Maniemegalai Vijayabaskar, Assistenzprofessor am Madras Institute of Development Studies. Der Mitautor einer von Oxfam – Magasins du monde in Auftrag gegebenen Studie[10]über die Zulieferer des Möbelmultis meint dennoch: „Sie legen sich ein menschliches Gesicht zu, um Kritik und Kontroversen zu vermeiden. Aber in Wahrheit tun sie nicht viel, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.“

Wie sehen die Arbeitsbedingungen nun wirklich aus? Auf den ersten Blick gut. Die Räume sind sauber und gut belüftet. Es gibt Teepausen und ordentliche Arbeitstische und -stühle, an den Wänden hängt der Text des Iway. Genauer hat sich aber das gemeinnützige niederländische Center for Research on Multinational Corporations (Somo) umgesehen, das auf die Untersuchung der sozialen Bedingungen in multinationalen Unternehmen spezialisiert ist.

Zulieferer in Indien, Bulgarien und Vietnam

Das Somo wurde 2003 von der niederländischen Gewerkschaft FNV beauftragt, die Arbeitsbedingungen und Arbeitsbeziehungen bei Ikea-Zulieferbetrieben in Indien, Bulgarien und Vietnam zu untersuchen. Die Experten sprachen in allen drei Ländern mit Beschäftigten, und zwar außerhalb der Betriebssphäre. Zudem inspizierten sie die Fabriken und sprachen mit der jeweiligen Betriebsleitung.

In ihrem Untersuchungsbericht, der sich auf zehn Zulieferbetriebe mit insgesamt etwa 2 000 Beschäftigten bezieht, stellten sie fest: „In den drei Ländern und in allen untersuchten Betrieben gibt es offensichtlich immer noch zahlreiche Verstöße gegen den Ikea-Verhaltenskodex.“ Am häufigsten waren die Verstöße gegen die gewerkschaftliche Organisationsfreiheit, das Recht auf kollektive Tarifverhandlungen sowie gegen die Bestimmungen über die Lohnhöhe und die Bezahlung von Überstunden. Im schlimmsten Fall lautete der Befund: keine Gewerkschaften, Arbeit ohne Pausen und ohne einen freien Wochentag, Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns. Und natürlich kannte niemand seine Rechte, und niemand hatte je von der Selbstverpflichtung des Möbelkonzerns gehört.

Eine alte Geschichte? Wie wir 2006 bei unserem Besuch in Indien feststellen konnten, sind die Beschäftigten in keinem der dortigen Ikea-Zulieferbetriebe gewerkschaftlich organisiert. Offiziell werden Gewerkschaften zwar geduldet, aber wenn man Shiva glauben darf, sind sie eigentlich gar nicht nötig: „Wenn es ein Problem gibt, setzen wir uns zusammen und reden darüber. Dabei geht es zum Beispiel um Anweisungen zur Sauberkeit in den Toiletten. Und wenn ich etwas auszusetzen habe, kann ich mit dem Chef sprechen.“

Die Antworten einer anderen Arbeiterin klingen freilich ganz anders, vielleicht weil sie noch jung ist und kein Kind zu ernähren hat. Xana sagt uns: „Gewerkschaften? Nein, die würden sie nicht akzeptieren. Und wenn Kontrolleure in den Betrieb kommen, schwört uns die Betriebsleitung auf die Lügen ein, die wir erzählen müssen.“

Das ist keineswegs außergewöhnlich in dieser Region. Jede gewerkschaftliche Initiative wird im Keim erstickt. Darauf kann sich Ikea genauso verlassen wie alle anderen multinationalen Unternehmen, die sich in Indien ansiedeln. Das ist schließlich die Garantie für das extrem niedrige Lohnniveau. Shiva verdient 2.300 Rupien (40,30 Euro) im Monat. Für den Bus zur Arbeit zahlt sie monatlich 500 Rupien (8,70 Euro). Reicht das, was übrig bleibt, zum Leben? Shiva lächelt verschämt. Wenn ihre Mutter auf der Kochstelle vor dem Haus das Essen zubereitet, gibt es fast jeden Tag dasselbe: „Entweder Suppe oder Reis mit Sauce.“ Und Fleisch? „Ja. Einmal in der Woche, sonntags. Aber nicht diesen Sonntag, weil Monatsende ist.“ Das Gespräch war am 20. Mai dieses Jahres.

Vom Ikea-Verhaltenskodex können sich die Beschäftigten nichts zu essen kaufen. Und Möbel bekommen sie von ihrem Arbeitgeber auch nicht. Kein Billy-Regal, kein Malm-Bett. Shivas Wohnung ist kärglich eingerichtet: zwei Zimmer, Kalender an den Wänden, Schwarzweißfotos, zwei Matratzen, zwei kleine Koffer, die als Schränke dienen. Eine Uhr und ein paar Götterfiguren.

Was würde sie mit 1.000 Rupien mehr im Monat machen? Shiva erzählt, wovon sie träumt: „Wir würden uns einen Gasherd mit Gasflasche kaufen. Das Kochen auf offenem Feuer ist lästig, weil der Rauch in den Augen brennt. In der Regenzeit ist trockenes Holz nur schwer zu finden. Und Holz sammeln macht viel Arbeit.“

Shivas Armut ist keine Ausnahme in der Welt der Ikea-Zulieferer, sondern eher die Regel. Die jungverheiratete Arbeiterin Manjula verdient 2.360 Rupien (41,40 Euro) im Monat. Wie ein Blick auf ihre Lohnabrechnung vom Oktober 2005 zeigt, ist dies ihr Bruttolohn, von dem man zwei Sozialversicherungsabgaben und den Beitrag für eine Lebensversicherung abziehen muss. Weiter unten auf dem Lohnstreifen sind die 2.360 Rupien beträchtlich abgeschmolzen. Manjula hat im Oktober 2005 insgesamt 24 Tage gearbeitet und dafür netto 1.818 Rupien (31,80 Euro) erhalten. Trotz sechs Tagen Arbeit pro Woche liegt sie damit nur knapp über der Schwelle, die extreme Armut definiert. Und all das im Geltungsbereich des Ikea-Verhaltenskodex.

Um ausreichend Geld zum Leben zu haben, machen die Arbeiter immer mehr Überstunden, erzählt Vijayabaskar: „Die Leute arbeiten zwölf Stunden am Tag, die Zeit für den Weg zur Arbeit und nach Hause nicht eingerechnet. In Stoßzeiten arbeiten sie manchmal auch bis zu 15 Stunden täglich.“

Ikea bemüht sich, die Anzahl der Überstunden zu beschränken. Aber der Druck, der von Lieferengpässen ausgeht, aber auch von der Geldnot der Beschäftigten herrührt, macht die zusätzliche Arbeit unvermeidlich. Die tägliche Arbeitszeit geht von 9.30 bis 13.30 Uhr und von 14.30 bis 18.30 Uhr. In einem Arbeiterviertel von Karur herrschen jedoch andere Bedingungen, wie Kalaya darlegt: „Wer von 19 bis 20 oder 21 Uhr Überstunden macht, bekommt keine zusätzliche Bezahlung. Wenn Sie bis 22.30 Uhr arbeiten, erhalten Sie 50 Rupien (0,87 Euro) zusätzlich. Die Arbeiter machen regelmäßig zweimal in der Woche Überstunden.“

Nach Auskunft von Assam, die ebenfalls in Karur arbeitet, gibt es in ihrem Betrieb keine Überstunden. Doch als wir abends vor dem Fabriktor stehen, hören wir die Maschinen laufen, und bis 20 Uhr sehen wir Arbeiterinnen in die Fabrik gehen. Es liegt also sehr nahe, dass Aussagen wie die von Assam von betrieblichen Anweisungen und von der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes diktiert sein könnten.

Deenosha ist auf ein zusätzliches Einkommen angewiesen. Am Fabriktor antwortet sie nur kurz auf unsere Fragen, dann entschuldigt sie sich. Sie hat noch eine weitere Arbeit, von 20 Uhr bis 1 Uhr morgens. Die bringt ihr weitere 80 Rupien (1,40 Euro) und dazu ein Essen.

Aus der Sicht des Unternehmens Ikea sind Shiva, Kalaya und Deenosha ein Kostenfaktor, der einer „strikten Begrenzung“ bedarf. Deswegen ist man ja nach Indien gekommen. Um die Aufträge pünktlich erfüllen zu können, geben die Zulieferer Aufträge an Subunternehmer weiter. Der Verhaltenskodex Iway, der schon bei den direkten Zulieferern keine Anwendung findet, wird damit vollends abstrakt: Keine Kontrolle, keine Anforderungen, keine Grenzen – ausgenommen das Diktat der Liefertermine.

Doch selbst bei den offiziellen Zulieferbetrieben ist die Kontrolle des Ikea-Verhaltenskodex äußerst lückenhaft. Durchgeführt werden diese Kontrollen (93 Prozent) großenteils von den 46 Einkaufsabteilungen, die über 32 Länder verstreut sind. Beim schwedischen Mutterkonzern gibt es eine Compliance and Monitoring Group, die über die Einhaltung des Verhaltenskodex wachen soll. Sie besteht aus fünf Personen (2004 waren es drei) und unterstützt die Kontrolleure der Einkaufsabteilungen, führt aber auch eigene Kontrollen durch: 2005 waren es insgesamt 53.[11]

Von externen Prüfgesellschaften wie KPMG, PricewaterhouseCoopers und Intertek Testing Services wurden 2004 nur sieben Prüfungen vorgenommen. Der Möbelmulti räumte ein, dass der Anteil der externen Prüfungen sehr niedrig liegt, versicherte aber, 2005 werde man „deutlich mehr“ unabhängiger Prüfungen durchführen lassen.[12]Inzwischen liegen die Zahlen für 2005 vor: Bei insgesamt 1.012 Kontrollen entfielen 26 auf unabhängige Außenkontrolleure.

Von den wenigen externen Prüfungen galten im Übrigen einige dem internen Kontrollsystem, das Ikea eingerichtet hat. Die Prüfer dürfen in diesen Fällen ihre Ergebnisse nicht veröffentlichen, ihre Berichte gehen einzig und allein an die Konzernführung. Die Kontrollen finden alle zwei Jahre statt (in Asien jährlich oder halbjährlich). Dabei müssen in nur ein bis zwei Tagen die 90 Kriterien des Iway abgearbeitet werden. Bei einem Achtstundentag entfallen auf jedes Kriterium also 10 Minuten und 40 Sekunden.

Wie überprüft man in 10 Minuten, ob ein Unternehmen keinen Druck ausübt, um die Mitarbeiter an einer gewerkschaftlichen Organisation ihrer Interessen zu hindern? Wie prüft man die Frage der Überstunden? Wie prüft man die pünktliche Auszahlung der Löhne, die Einhaltung der Pausen, das Problem der Zwangsarbeit? Oder den ganzen Komplex der Kinderarbeit? Ganz einfach: Man fragt die Betriebsleitung. Man schaut sich die Buchhaltung des Unternehmens an. Nur wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, befragt man die Arbeiter in der Fabrik.

Diejenigen, die solche Kontrollen durchführen, geben sich wahrscheinlich redliche Mühe, aber die Bedingungen, unter denen sie der Aufgabe nachgehen, machen eine ernsthafte Kontrolle unmöglich. Das Verfahren ist zu oberflächlich und kaum geeignet, die Arbeiter zu Auskünften über ihre tatsächlichen Arbeitsbedingungen zu bewegen, zumal die Interviews meist im Rahmen der Qualitätskontrolle erfolgen.

Toneesh zum Beispiel, der in der Qualitätskontrolle seines Betriebs arbeitet, erlebt den Besuch der Ikea-Kontrolleure zweimal im Jahr: „Sie stellen ein paar Fragen, vor allem zur Qualität der Produkte, um die Produktion zu bewerten. Es sind Inder aus Delhi oder Chennai. Aber auch Europäer. Die reden allerdings nur mit den obersten Chefs. Die Arbeiter können schon wegen der Sprache nicht direkt mit ihnen reden.“

Ähnliches berichtet die Arbeiterin Kalaya: „Gestern kam ein Mann von Ikea. Er zeigte uns ein Video über die Herstellung von Qualitätsprodukten. Und er stellte Fragen, aber nur zu den Produkten.“ Solche Untersuchungsmethoden dürften kaum geeignet sein, die Überstunden der jungen Frau abzubauen.

Die Ikea-Politik beschränkt sich darauf, die Ausbeutung der Menschen ein wenig ziviler zu gestalten. Gewiss, die Beschäftigten haben sauberes Wasser, Schutzhandschuhe, getrennte Toiletten und manchmal sogar Teepausen. Aber Teetrinken hilft den Beschäftigten nicht, bis zum Monatsende über die Runden zu kommen, und sobald es um die wichtigen sozialen Fragen geht, um Löhne, gewerkschaftliche Organisation und Überstunden, verschärft sich die Tonlage, wie wir gesehen haben.

Könnte es sein, dass der eigentliche Nutznießer der sozialen Verantwortung, die im Ikea-Verhaltenskodex zum Ausdruck kommen soll, am Ende das Unternehmen selbst ist? Einerseits wälzt Ikea, wie Vijayabaskar anmerkt, „die Kosten dieser Sozialpolitik auf die Zulieferer ab“. Anderseits kann das Unternehmen mit diesem kostenlosen Engagement sein Image aufbessern und Kinderarbeit vermeiden, die für den Westen immer noch jenseits der moralischen Schmerzgrenze liegt.

Diese Fortschritte sind auch deshalb so einfach und billig zu erzielen, weil die im Iway niedergelegten Grundsätze keineswegs verbindlich sind. Die von Ikea proklamierte soziale Verantwortung taugt also nicht einmal dazu, alle Beschäftigten vor vollkommener Verelendung zu bewahren. Um diesen Anspruch einzulösen, müsste das Unternehmen seinen Mitarbeitern ein anständiges Leben ermöglichen.

Dabei denken wir keineswegs an den Luxus eines Fernsehers oder Mobiltelefons, sondern nur an die Möglichkeit, dass etwas öfter Fleisch auf den Tisch kommt; oder dass Eltern es sich leisten können, ihre Kinder eine Klasse wiederholen zu lassen, statt sie von der Schule zu nehmen; oder dass sie nicht auf zwei Jobs angewiesen sind. Oder dass sie einmal in der Woche einen echten Ruhetag genießen könnten, statt die während der Woche liegen gebliebene Hausarbeit erledigen zu müssen. Ganz zu schweigen von der Möglichkeit, dass Shiva sich den Luxus eines Billy-Regals leisten könnte.

Fußnoten:

1Zitiert nach Read Me, magazine international interne d’Ikéa, Nr. 1, französische Ausgabe, März 2006.

2„Un Ikéa sinon rien!“, Courrier International, Nr. 722, 2.–8. September 2004.

3www.ipetitions.com/campaigns/POUR_ IKEA_ MOU GINS/.

4Ikea, „Social and Environmental Responsibility Report 2005“.

5„Trying to assemble a perfect reputation“, The Observer (London), 25. November 2001.

6Aus dem „Testament eines Möbelhändlers“, das in weiten Teilen in Ingvar Kamprads autorisierter Biografie referiert wird: Bertil Torekull, „Das Geheimnis von IKEA“, Hamburg 1988.

7Erste Reportage: Manuel Balza Duran und Davor Radojicic, „Corporate Social Responsibility and Nongovernmental Organizations“, Avdelning Institution Division, Department Ekonomiska institutionen, Linköping, 30. Januar 2004. Zweite Reportage: Mattan, deutsche Dokumentation von 2004. Dritte Reportage: zitiert in Susan Christopherson und Nathan Lillie, „Neither global nor standard: corporate strategies in the era of new labor standards“, University of Oxford, November 2003; zitiert auch in: Newsweek, 12. März 2001, und „Ikea accused of exploiting child workers“, BBC, 23. Dezember 1997.

8IWAY Standard, Punkt 15.

9Da mehrere Befragte die Befürchtung äußerten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, haben wir alle Namen von Arbeiterinnen und Arbeitern geändert.

10Siehe: www.madeindignity.be.

11Ikea, „Social and Environmental Responsibility Report 2005“.

12Ebd.

Aus dem Französischen von Michael Bischoff

Olivier Bailly, Jean-Marc Caudron und Denis Lambert arbeiten als Journalist, Forscher und als Generalsekretär von Oxfam – Magasins du monde (Belgien) und haben zusammen das Buch „Ikéa, un modèle à démonter“, Brüssel 2006, geschrieben.