: Verliebt in Berlin
AUGUSTSTRASSE Die ehemalige jüdische Mädchenschule wird zu einem Zentrum gehobenen Konsums. Der Geist des Ortes wird beschworen. Doch wer sich hier einst verliebte, vom Geist und jungen Frauen geküsst, gerät ins Grübeln
VON TIMO FELDHAUS
Den alten Gang entlang geht es, einmal links, ganz ans Ende des Gebäudes. Es ist Freitag, Michael Fuchs lädt zur Pressekonferenz. Der Charlottenburger Galerist hat auf dreißig Jahre die seit vielen Jahren verfallende ehemalige jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße gemietet, von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Er will rund vier Millionen Euro in eine behutsame Sanierung des Gebäudes investieren. Das teure Szene-Restaurant Grill Royal wird als Mieter einziehen, ein Buchladen soll kommen. Im dritten Stock, der weiterhin Aula genannt werden soll, will Fuchs eine kommerzielle Galerie errichten, leider noch ohne Idee, mit was für Kunst.
Für mich ist der Weg durch die maroden Gänge, in der sich Farbstreifen von der Decke wellen, ein schwärmerischer Akt. Vor knapp fünf Jahren habe ich hier meine Liebe kennengelernt. Es war die 4. Berlin Biennale, im Raum der Pressekonferenz, der früher einmal eine Turnhalle war, stand eine Installation von Paul McCarthy, Holztüren schlugen ständig mit voller Wucht gegeneinander. Wir waren die Guards, wir passten auf die Kunst auf, wir kamen ins Gespräch. Kurze Zeit später bekamen wir eine Tochter, sind völlig aus Versehen an den Kollwitzplatz gezogen und seit kurzem Teil einer Baugruppe.
Über Gentrifizierung wurde erst bei der letzten Biennale in Kreuzberg gesprochen. 2006 interessierte das hier niemanden, denn als die Kuratoren durch die Hinterhöfe und Gassen der ehemaligen Spandauer Vorstadt zogen, war diese schon erledigt. Gentrifizierung hat hier schon zehn Jahre zuvor begonnen und bekam in den gegenüber gelegenen Kunst Werken ihr Emblem. In der Spandauer Vorstadt trafen bis zum Zweiten Weltkrieg jüdische Immigranten auf das etablierte jüdische Bürgertum, die Nazis machten aus der Mädchenschule ein Sammellager für Deportationen. In der DDR war im Schulgebäude ein polytechnisches Gymnasium untergebracht. Das Ende des Schulbetriebs vor 15 Jahren fällt zusammen mit der Sanierung der Gegend. Heute, sagt Michael Fuchs, möchte er hier einen Ort schaffen, der „nach draußen strahlt“.
Im vergangenen Jahr schrieb Ulf Poschardt einen verblüffenden Text in seinem Welt-Feuilleton. Er inszenierte sich dort als jemand, der nach Jahren wieder die Mitte besucht, beim Flanieren die Subkulturhistorie von Techno und Mode nacherzählt und bester Laune wieder geht: „Heute ist die Mitte von Berlin eine blühende Landschaft. Die Immobilienpreise haben mitunter New Yorker Niveau erreicht, die Nachfrage nach ‚Loftigem‘ ist anhaltend hoch.“ Bereits 2009 glaubte er ein magisches Dreieck zwischen Grill Royal, dem zum Privatmuseum umgebauten Bunker des Sammlers Christian Boros – und ausgerechnet der FDP-Zentrale in der nahe gelegenen Reinhardtstraße ausgemacht zu haben, auch wenn die FDP in Mitte keine Schnitte macht.
Auch Boris Radczun vom Grill Royal spricht in der alten Turnhalle der Mädchenschule, in der er bald auch koscheres Essen anbieten möchte, von einer Achse. Diese verbinde seinen 90er-Jahre-Club Pogo, der hier um die Ecke entstanden war, mit seinem neuen Restaurant. Dabei sind die Sinnbilder der neuen Mitte der internationale Privatclub Soho House am Ende der Torstraße und der gegenüber der Schule liegende Neubau des Wella-Erben und Sammlers Thomas Olbricht, der „ME Collectors Room“. Ein irrer Ort des Geldherzeigens, an dem Kulinarisches und Kunst irgendwie zusammenfinden sollen. Die „Mädchenschule“, wie der neue „Kunst- und Kulturstandort“ heißen soll, er wird wohl perfekt hineinpassen in dieses neue Berlin-Mitte: Private Sammler dürfen zeigen, was sie haben, Grill-Royal-Besucher auch.
Heute gibt es hier sogar gutes Essen, die Kunst dagegen scheint beliebig. Während der 4. Biennale war die Kunst richtig super, aber in unseren Pausen wussten wir nie, wohin wir Essen gehen sollten. War alles so teuer. Aber auch egal. Wir hatten ja uns. Damals in der Mädchenschule ereignete sich für uns gewissermaßen die Klischee-Biografie einer Gentrifizierfamilie: Wir wohnten auf der Linienstraße in einem Kohleofen-Haus, das wie besetzt aussah. Dann Kleinkind und Prenzl Hill. Heute sind wir ständig verwirrt. Ist Baugruppe gleich Townhouse? Wer sind wir?
Stephan Landwehr, der andere Mann vom Grill Royal, zeichnet ein mögliches künstlerisches Konzept der Mädchenschule: „Jeder, dem etwas gefällt, hängt da einfach ein Bild rein.“ Jeder kann bei ihm natürlich nicht jeder sein. Jeder, das sind ja eigentlich er und seine Freunde. Und doch spiegelt die Aussage denselben Geist, der aus den anarchischen Galerien in den 90ern wehte. Die Männer, die heute in Mitte die Achsen aus Vergangenheit und Gegenwart zusammenführen, zitieren gern den Geist des Ortes. Doch in ihren geschmackvollen Repräsentationsräumen findet sich der nicht mehr. Kleine Unterschiede machen unsere Welt aus. Ob ich die meiner Tochter demnächst noch vermitteln kann?