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Archiv-Artikel

Plettrichs und der Etiketten-schwindel

„Versuch’s doch mal bei der Deggendorfer Frost, vielleicht haben die was Reguläres auf Lager“„Nach unserer Erkenntnis bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefahr für die Verbraucher …“

AUS MEMMINGEN, MÜNCHEN und GANGKOFEN MAX HÄGLER

Drei Stunden hat der Untersuchungsausschuss an diesem Dezembertag schon getagt, Zeit für die Pinkelpause. Im Gänsemarsch trotten die Abgeordneten des Bayerischen Landtags hinaus. Ronald Plettrichs, der letzte Zeuge an diesem Tag, sitzt verloren vor leeren Stühlen. Der blasse, grauhaarige Mann nestelt an seinen Unterlagen, steht auf. Nimmt wieder Platz, als die Volksvertreter zurückkehren, um weiter den bayerischen Gammelfleischskandal zu untersuchen.

Der Termin im Landtag ist sein letzter öffentlicher Auftritt namens der Firma, die schon seinem Vater gehörte. Die letzte Gelegenheit, irgendwie entschädigt zu werden für den Strudel aus Ekelfleisch und Hysterie, der auch ihn im Oktober 2005 erfasst hatte. Im ganzen Land war Gammelfleischalarm, und besonders vor Produkten seiner Rottaler Geflügelprodukte GmbH wurde öffentlich gewarnt. Der 42-Jährige musste aus ganz Deutschland seine Ware zurückholen und vernichten. Obwohl das Ministerium seine Produkte zwei Wochen später für unbedenklich erklärte, erholte er sich nicht mehr von dem Imageschaden, im April 2006 ging er in Insolvenz.

Das Böse trat im November 2004 in Plettrichs Leben. Von einem Unternehmen in Nordrhein-Westfalen hatte er einen großen Auftrag bekommen: „Hühnersuppentopf“: Ein tiefgekühlter Hähnchenrücken und ein 150-Gramm-Päckchen Suppengrün in eine Styroporschale gelegt und eingeschweißt – fertig ist der „Hühnersuppentopf“, den Muttern zu Hause auftauen und einkochen kann. Doch Plettrichs ging die Rohware aus, die sogenannten Hühnerkarkassen. Von seiner Firma im niederbayerischen Gangkofen aus telefonierte er mit seinem Zulieferer, der österreichischen Firma Hubers Landhendl: keine passende Ware vorrätig. Aber Plettrichs bekam einen Tipp. „Versuch’s doch mal bei der Deggendorfer Frost, vielleicht haben die was Reguläres auf Lager.“ An diese Firma lieferte Hubers Landhendl für gewöhnlich Karkassen, allerdings als Schlachtabfälle deklariert, also nicht für den menschlichen Verzehr geeignet. Möglicherweise, so der Tipp, habe das Allerleikühlhaus auch Suppenfleisch vorrätig.

Kein Thema, wir liefern, heißt es, als Plettrichs in Deggendorf nachfragt. Am 29. November 2004 bekommt Plettrichs 5.790 Kilo Hühnerkarkassen, das Kilo zu 53 Cent. Bis zum Januar kommen noch fünf weitere LKW-Ladungen an, insgesamt liefert die Deggendorfer Frost GmbH 40 Tonnen Hühnerkarkassen im Wert von über 15.000 Euro.

Was Plettrichs nicht weiß: Die EU-Zulassungsnummer „D-BY-EK 208“ auf den Deggendorfer Papieren ist seit 2003 ausgelaufen, die Firma ist gar nicht mehr als Lebensmittelbetrieb zugelassen. Auch die Lieferpapiere sind geschönt: In den „Big Boxes“, die Plettrichs in seine Kühlhallen räumt, ist – anders als angegeben – nur Kategorie-3-Ware: laut EU-Verordnung Schlachtabfälle, die nur zu Hunde- oder Katzenfutter oder Biogas verarbeitet werden dürfen. Für Mutters Brühe darf Fleisch dieser Kategorie nicht mehr verwendet werden. Es ist das, was man „Ekelfleisch“ nennt.

Ein Jahr später, am 13. Oktober 2005, fliegt Plettrichs Zulieferer, die Frost GmbH auf. Rolf-Hermann Keck hat es zu wild getrieben. Als das bayerische Umweltministerium das Deggendorfer Unternehmen filzt, laufen seit Monaten Ermittlungen bei den Zollbehörden. Ihnen war aufgefallen, dass sich binnen fünf Jahren die Menge „ungenießbarer Waren tierischen Ursprungs“ verzehnfacht hatte, die Keck aus der Schweiz importierte. Und er war den Ermittlern kein Unbekannter mehr. Sein Kühlhaus war einsturzgefährdet, Nachbarn hatten sich über Ratten beschwert, ein ehemaliger Mitarbeiter hatte ihn wegen gefälschter Veterinärzertifikate angezeigt. Doch das Veterinäramt ließ Keck weiter seine Geschäfte machen, offiziell handelte er ja nur mit Schlachtabfällen.

Seit September hat das Landgericht Memmingen diesen gammligen Warenhandel untersucht, heute werden die Plädoyers verlesen. Während des Verfahrens sind neue, ekelhafte Details ans Licht gekommen. Da gibt es den bestechlichen Ex-Zöllner, den Keck später selbst angestellt hat. Der erzählt vor Gericht von Geflügelgerippen, Hühnerköpfen und -füßen, die in nur „grob ausgespülten Transportkisten“ lagerten; meist auch noch ungekühlt, „weil entweder das Aggregat nicht gegangen ist oder sich Angestellte über den Lärm beschwerten“. Ekelhaft ebenfalls, was Kunden berichten, etwa der Geflügelzüchter, der von Keck Hühnchenkarkassen als Lebensmittelware gekauft und nach Kaliningrad geliefert hat, bis „eine Riesenreklamation“ kam: Zwischen den Geflügelteilen hatten die Russen Kaninchenbeine gefunden.

Im November war auch Plettrichs als Zeuge geladen, wegen der Karkassen, die er von Keck für seine „Hühnersuppentöpfe“ bestellt hatte. „Ich habe klar gesagt“, gibt er zu Protokoll, „dass die Ware für den menschlichen Verzehr geeignet sein muss.“ Und bei ihm in der Firma seien die Keck-Lieferungen so wie alle anderen Waren auch kontrolliert worden. Nichts sei gammlig gewesen, nichts grünlich, immer sei der Amtstierarzt dabei gewesen und der habe nie Beanstandungen gehabt. Das Suppenfleisch schmeckte, roch und sah aus wie bestellt, auch die Lieferpapiere stimmten. Plettrichs hatte keine Chance, zu erkennen, dass er reingelegt worden war.

„Es ist sehr schwer, Kategorie-3-Material zu erkennen, wenn die Ware normal ausschaut“, sagt Veterinär Dr. Michael Knabel, der das Gericht als Experte berät. Denn Kategorie-3-Material muss nicht zwingend Ekelfleisch sein: Sobald etwa eine Box mit lebensmitteltauglichem Fleisch in einem Raum mit Fleischabfall steht, muss es umdeklariert werden. Dasselbe passiert, wenn bei einer Box die Kühlkette unterbrochen wurde. Das Fleisch kann weiter genießbar bleiben, trotzdem ist ab sofort die Verwendung als Lebensmittel verboten. Wer so etwas mit gefälschten Papieren angeliefert bekommt, ist chancenlos. „Man kann schon sagen, dass der Plettrichs das Opfer ist, das ist schmerzlich“, sagt Knabel.

Es gibt Wege, so etwas zu verhindern, etwa indem man das Fleisch einfärbt. „Dann wäre eine Verwechslung oder Umdeklarierung ausgeschlossen“, so Knabel. „Aber da gibt es momentan zu viele Widerstände in der Wirtschaft, die wollen kein blaues Tierfutter verkaufen.“ So kommt es, dass man bis auf weiteres Fleischabfälle zu Lebensmitteln zurückdeklarieren kann. Das Verbrechen lohnt sich – das Risiko ist überschaubar. Das zeigt auch der Memminger Prozess. Mit viel Aufwand mussten sich Staatsanwälte und Zoll bei Lieferant (Hubers Landhendl), Händler (Deggendorfer Frost) und Abnehmer (Rottaler Geflügelbetriebe) die Puzzleteile für ihren Fall zusammenklauben. Plettrichs hat ihn nicht erkannt.

Nach der Razzia bei Keck am 13. Oktober 2005 gerät auch sein Betrieb ins Visier der Fahnder. Fünf Tage später kommt ein Fax aus dem bayerischen Umweltministerium. Betreff: „Widerrechtliches Verbringen von Material der Kategorie 3“. Das Ministerium von Werner Schnappauf schlägt Plettrichs den Text für eine Pressemitteilung vor, in der die Verbraucher gebeten werden, den „Hühnersuppentopf“ zu entsorgen oder gegen eine Ersatzlieferung zurückzusenden. Obwohl Plettrichs überzeugt ist, dass seine Ware einwandfrei ist, schickt er die Mitteilung an die Nachrichtenagenturen und lokalen Zeitungen. „Wenn wir keine Rückholaktion starten, wird dies das Ministerium“, ist handschriftlich in seinen Papieren notiert. Am nächsten Tag holt ein Kurier im Auftrag des Ministeriums Rückstellproben ab, „um sie ins Labor zu bringen“, erinnert sich Plettrichs. „Wiedergesehen habe ich sie dann in den Zeitungen und im Fernsehen, als sie Umweltminister Schnappauf in die Kamera gehalten hat.“ Er selbst beauftragt daraufhin ein Labor, die verbliebenen Proben zu untersuchen. Auch Plettrichs zehn Jahre alte Tochter bekommt zu spüren, das ihr Vater in den Schlagzeilen ist: Ihr Schulranzen wird von Klassenkameraden mit Müll vollgestopft.

Am 25. Oktober 2005 bekommt ihr Vater das Laborergebnis. „Frei verzehrs- und verkehrsfähig“ seien die Chargen. Blassrosa, schnittfest, mit arttypischem Geschmack und ohne bakteriologische Belastung, so der Eintrag „05-103016“ im Labor-Tagebuch. Sein Betrieb wird nochmals kontrolliert, und am 8. November 2005 erreicht Plettrichs schließlich das Schreiben eines Ministerialdirigenten Deckart aus dem Umweltministerium. „Nach unserer Erkenntnis bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gesundheitsgefahr für die Verbraucher […].“ Handelspapiere, Warenkennzeichnung und Produktion seien nicht zu beanstanden gewesen. „Abschließend möchten wir Ihnen dafür danken, dass Sie sich den Behörden gegenüber stets kooperativ gezeigt und an der Aufklärung des Sachverhalts mitgearbeitet haben.“

Eine Pressemitteilung dieses Inhalts hat das Umweltministerium nicht versandt. Plettrichs hoffte, dass vielleicht der Untersuchungsausschuss seine Ehre wiederherstellen würde. Aber da ist nach zehn Minuten und drei kurze Fragen alles vorbei. Alles Gute wünscht man ihm, angesichts der „misslichen Angelegenheit“. Dann darf Plettrichs abtreten. „Ein Witz“, sagt er anschließend in der Cafeteria des Landtags. Natürlich sei es ein knallhartes Geschäft, wo „ein zehntel Cent“ entscheidet. „Aber ich habe immer transparent gearbeitet, habe bei dem Keck-Fall gleich mit dem Ministerium zusammengearbeitet, und dann zerren sie mich ohne Prüfung in die Öffentlichkeit.“ Selbst wenn Plettrichs wütend ist, bleibt sein Gesicht weich, sein Tonfall leise. Er erzählt von seiner Tochter. „Wenn die malt, ist da immer ein Bild vom Schnappauf drauf.“ Immer wollte sie Chefin werden, erzählt er, sogar auf den Fingern pfeifen hat sie gelernt. Dann muss er los, die Parkuhr läuft aus. Plettrichs hält sich an die Regeln.