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Archiv-Artikel

Der Mann, der hip war

Mit 83 Jahren ist der Produzent und Atlantic-Plattenlabel-Gründer Ahmet Ertegun gestorben

Ausgerechnet die Rolling Stones. Und dann auch noch Bill Clinton. Offenbar war das Konzert zum 60. Geburtstag des ehemaligen US-Präsidenten eine Verpflichtung zu viel: Am 29. Oktober ist der amerikanische Produzent Ahmet Ertegun im New Yorker Beacon Theater während der Rolling-Stones-Show schwer gestürzt und nun den Folgen einer Hirnverletzung erlegen, die er sich dabei zuzog. Ertegun wurde 83 Jahre alt, das dürfte bis auf weiteres die Höchstmarke im Rock-’n’-Roll-Himmel sein.

Die Rolling Stones waren nur eine Band auf dem Weg des berühmten Atlantic-Label-Mitgründers. Ertegun hatte sie alle: Aretha Franklin wurde durch ihn zur weltweit berühmtesten Soulsängerin, Led Zeppelin nahm er gleich nach dem ersten Demo unter Vertrag und machte so den Aufstieg von Hardrock und Heavy Metal möglich. Bescheidenheit gehörte denn auch nicht unbedingt zu seinem Repertoire. Auf die Verkörperung in dem Film „Ray“ angesprochen, antwortete Ertegun: „Ich bin nicht der schüchterne kleine Kerl, wie er im Film dargestellt wird. Mir ist es egal, wie der Schauspieler aussieht, nur hätte es jemand sein müssen, der hip ist.“

Hip waren unterdessen die Musiker, mit denen Ertegun seine Karriere und den Erfolg von Atlantic beförderte. Wer den Jazz eines Charles Mingus, das sanfte Geklampfe der Woodstock-Generation und selbst jamaikanischen Ska vermarkten konnte, musste schon mit ziemlich offenen Ohren durch die Weltgeschichte wandeln. Vermutlich half ihm die eigene Biografie: 1923 in Istanbul als Sohn von türkischen Diplomaten geboren, lernte Ertegun bereits als Neunjähriger in London die Musik von Cab Calloway und Duke Ellington kennen, zu deren Konzerten ihn sein älterer Bruder, der Jazzmusiker Nesuhi Ertegun, mitnahm. Es war Liebe auf den ersten Blick zu einem Sound aus „funkelnden Bläsern und einer Rhythmusgruppe, wie du sie so noch nicht auf Platten gehört hattest“.

Ein Abend mit Folgen: Nachdem die Familie nach Washington D. C. übergesiedelt war, besorgten sich die beiden Ertegun-Brüder bei einem Zahnarzt 10.000 Dollar als Kredit und riefen 1947 gemeinsam mit dem Produzenten Jerry Wexler das Plattenlabel Atlantic ins Leben. Eine ihrer ersten Entdeckungen war der Gospelsänger Ray Charles, der zum Rhythm-’n’-Blues-Künstler aufgebaut wurde – und zum ersten Popstar, der in den USA der Fifties über die Rassengrenzen hinweg funktionierte.

Die meisten Musiker der Frühzeit von Atlantic lernte Ertegun auch deshalb kennen, weil er keine Berührungsangst hatte. Er lebte lange Zeit selber in Harlem, ging in kleine Clubs und beförderte von dort aus Sänger wie Clyde McPhatter und dessen Drifters in die Charts. Manchmal gab es trotzdem Rückschläge: Elvis Presley hat nicht bei ihm, sondern bei RCA unterschrieben, die seinerzeit doppelt so viel geboten hatten. Ertegun blieb trotzdem cool. Sein Kommentar mit Blick auf die Abfuhr von Elvis? „Ich hätte die Beatles nehmen sollen.“ HARALD FRICKE