: Das große Getuschel
BUNDESLIGA Endlich. Die Rückrunde hat begonnen. Für die Trainer und die Torhüter bedeutet das, dass sie sich wieder dem harten Konkurrenzdruck und den ketzerischen Medienberichten stellen müssen. Und die Schiedsrichter den neunmalklugen Zuschauern
Selbst die Nr. 1 hat keine Ruhe mehr
Was hat Thomas Kraft, was Hans Jörg Butt nicht hat? Die Entscheidung von Trainer Louis van Gaal, von nun an beim FC Bayern München den gänzlich Bundesliga-unerfahrenen 22-jährigen Ersatztorwart anstatt des in der Hinrunde glänzend haltenden 36-jährigen Stammkeepers zwischen die Pfosten zu stellen, hat vielerorts die vergleichende Schlüsselfrage aufgeworfen. Dabei geht es Trainer Louis van Gaal nur vordergründig um die Wahl Butt oder Kraft.
Der Holländer will mit seinem talentierten Novizen vielmehr den Beweis erbringen, dass die Vereinsführung sich im Sommer den kolportierten kostspieligen Transfer des Schalker Manuel Neuer, der deutschen Nr. 1, sparen kann.Van Gaal schickt einen begabten Anfänger gegen den vermeintlich Besten der Nation ins Rennen. Diese Personalie verdeutlicht bislang am eindrucksvollsten, wie flach die Hierarchien im deutschen Torhüterwesen geworden sind.
In der Hinrunde zeigten bereits die eingesetzten Ersatzkräfte in Köln, Gladbach, Mainz, Hoffenheim und Freiburg, dass man den Vergleich mit der vereinsinternen Nr. 1 durchaus zu ihren Gunsten auslegen kann. Immer öfter wird die Torwartfrage gestellt. Die Suche in den Zeitungsarchiven beweist, dass sich die Einträge zur „Torwartfrage“ erst in den letzten Jahren häufen.
Woran liegt das? Zum einen haben sich in den letzten Jahren die Anforderungen an das Torwartspiel revolutionär verändert. Neben den Reflexen auf der Linie müssen die Torhüter von heute den Ball auch mit dem Fuß beherrschen, das Spielfeld mit strategischer Weitsicht überblicken, um dann nach vorne schnell Impulse setzen zu können. Letztere Fähigkeiten wurden im WM-Jahr 2006 Oliver Kahn ab- und Jens Lehmann zugesprochen. Die Torwartfrage wurde schlicht nach den Parametern modern und unmodern entschieden. Jetzt, da sich das Modell des mitspielenden Keepers durchgesetzt hat, ist die Frage nach der wahren Nr. 1 problematischer denn je, weil die Ballfänger durch die komplexeren Aufgaben nicht nur schneller schlecht aussehen, sie zu vergleichen, ist auch komplexer geworden.
Zum anderen stehen die Torhüter heute mehr zur Disposition, weil sie ihre Sonderstellung eingebüßt haben. Früher galt die Trainermaxime, dass die Nr. 1 erst durch eine unbefristete Stammplatzzusage zur nötigen Sicherheit und optimalen Leistungen finden kann. Mittlerweile gilt aber auch für sie der grenzenlose Wettbewerb. Gut ist der, der trotz des Bangens um seinen Arbeitsplatz die Nerven bewahrt. Der Mainzer Trainer Thomas Tuchel erklärte jüngst, dass bei ihm der vermeintliche Stammtorhüter in jeder Trainingseinheit seinen Status untermauern müsse. Und van Gaal rief im Bayern-Tor den offenen Wettbewerb mit der Begründung aus, man müsse Kraft doch die Chance geben, zu zeigen, dass er dem großen Druck standhalten kann.
Wenn es nicht klappt, hat van Gaal im ungünstigsten Fall zwei verunsicherte Torhüter. Ein Risiko, das man mittlerweile eher bereit ist, einzugehen. Auf dem Transfermarkt lässt sich ja schnell Ersatz finden. JOHANNES KOPP
Chips und Kameras gegen Menschlichkeit
Sommer 2010, Deutschland spielt gegen England. In der 38. Minute schießt Frank Lampard aus 17 Metern aufs Tor. Der Ball trifft die Latte und prallt von dort eindeutig hinter die Linie auf den Rasen. Der Schiedsrichter und seine Assistenten stehen schlecht, sehen weniger als die meisten Zuschauer und geben das Tor nicht. Nach dem Spiel entbrennt eine Diskussion darüber, was helfen würde, solche Fehler zu verhindern.
Bayern-München-Präsident Uli Hoeneß schlug eine Torkamera vor. „Das ist die einzige elektronische Hilfe, die keine Diskriminierung des Schiedsrichters bedeutet“, sagte er. Auch Markus Merck, dreimaliger Welt-Schiedsrichter, sprach sich für technische Hilfsmittel aus. Und am vergangenen Mittwoch schwärmte Bundesliga-Schiedsrichter Thorsten Kinhöfer von einem Chip im Ball. „Der Chip wäre ein Riesenvorteil, vor allem für die Assistenten an der Linie“, sagte er gegenüber dem General Anzeiger.
Diese Forderungen bekommen Rückenwind von der Statistik. In der Bundesliga-Hinrunde gab es „94 Szenen, die für Schiedsrichter schwer zu beurteilen waren“, sagte Lutz Fröhlich, der die Abteilung Schiedsrichter beim DFB leitet, am Montag in Berlin. Davon wurden zwar 44 gut gelöst, doch 14 waren auch später noch unklar, und 36 „hätte man besser lösen können“. Zehn waren krasse Fehlentscheidungen.
Das Problem ist, dass der Schiedsrichter eine Szene nur einmal, wenn überhaupt, sieht, während die Zuschauer immer wieder Zeitlupen aus allen Perspektiven analysieren können. Durch die Technik wissen die Menschen vor dem Fernseher manchmal mehr vom Spiel, als der Unparteiische, der die Partie leitet.
Fifa-Schiedsrichter Manuel Gräfe steht technischen Hilfsmitteln eher skeptisch gegenüber. Klar sei es schlecht, wenn einem ein Fehler nachgewiesen würde, „aber man muss lernen, dass Schiedsrichter auch Fehler machen“. Sie seien auch nur Menschen, die genau wie die Spieler gute und schlechte Tage hätten. Auch Kinhöfer schränkte seine Forderung ein. Wichtiger, als immer neue Technik einzuführen, sagte Gräfe, sei es, das Verhältnis zwischen Fußballern und Schiedsrichtern zu verbessern. Etwa indem sich diese besser kennenlernen. Entscheidungen würden so eher akzeptiert. Heute gäbe es nur noch 21 Bundesliga-Schiedsrichter, vor ein paar Jahren waren es noch doppelt so viele, so entstünde ein besseres Verhältnis mit den Spielern. „Die Akzeptanz ist größer, die Verständigung besser“, sagt Gräfe. Da auch die Technik Fehler nie ganz verhindern könne, sei dies der sinnvollere Weg.
Nach dem Spiel zwischen England und Deutschland sagte Nationalspieler Sami Khedira, ungerechte Entscheidungen seien nicht so schlimm, sie würden sich mit der Zeit ausgleichen. In diesem Fall brauchte es 44 Jahre. Und auch in der Bundesliga, sagte Gräfe, gehören Fehler „ein bisschen zum Entertainmentprogramm“.
RASMUS CLOES
Karussell fahren, bis allen schlecht ist
„Der Trainer ist der Idiot“ lautete eine treffende Schlagzeile zum Eklat zwischen 1899 Hoffenheim respektive Mäzen Dietmar Hopp und Coach Ralf Rangnick. Der Trainer ist stets der erste Schuldige, wenn es eine Niederlage setzt. Keiner der 18 Bundesligatrainer kann drei Niederlagen hintereinander kassieren, ohne dass im Umfeld seines Vereins die Frage aufkommt, ob er nicht besser zu ersetzen wäre. Hierbei entsteht oft eine Wechselwirkung zwischen Vereinsvertretern und Journalisten. Die einen werden zu ihrem Trainer befragt, die anderen antworten und haben schon verloren. Phrase der Stunde ist dann: die „Mechanismen der Branche“.
Aufgekommen ist dieser Phantombegriff, als in der Bundesliga das Hire and Fire der Coaches noch beliebteste Beschäftigung der Vereinsverantwortlichen war und Trainer wie Thomas Schaaf und Volker Finke die leuchtenden Ausnahmen. Und so ging das: Zunächst wurde mehr Nachhaltigkeit bei der Trainerwahl gefordert, die erfolgreichen Trainerdinos Alex Ferguson in Manchester und Arsene Wenger bei Arsenal standen stets Pate und wurden als leuchtende Beispiele vorgeführt. Und dann die Feststellung: In Nibelungentreue allein am Trainer festzuhalten, auch wenn dieser offensichtliche Fehler macht, kommt eventuell aufs Gleiche hinaus, wie ihn bei der ersten Niederlage zu entlassen.
In den Medien jedoch wurden die „Mechanismen der Branche“ immer häufiger erkannt. Das „Trainerkarussell“ wird immer wieder aufs Neue mit spitzbübischer Freude angeworfen. Mittlerweile gehört es zum Standardrepertoire der field reporter, den Trainer keine zwei Minuten nach einer Niederlage, und sei es die erste nach 15 Siegen, zu fragen, ob er schon Angst vor den „Mechanismen der Branche“ habe. Dass es die Reporter selbst sind, die diese „Mechanismen“ bekräftigen, wird dabei geflissentlich übersehen.
Bremen, Freiburg und zuletzt Hoffenheim, wo sehr lange an einem Trainer festgehalten wurde, sind allesamt ausgewiesene Medienoasen. Maximal zwei Zeitungen berichten an diesen Standorten regelmäßig von dem wichtigsten Verein der Stadt. Verhältnisse, von denen man als Trainer in Hamburg, München oder dem Ruhrgebiet nur träumen kann.
Beim VfB Stuttgart herrscht diese Saison das Hire and Fire – mit Bruno Labbadia wurde bereits der dritte Trainer in nur einer Saison verpflichtet, und es findet sich kein Artikel über die Schwaben, der dies nicht der Vereinsführung vorwirft. Gegenbeispiel ist Borussia Mönchengladbach. Dort ist Michael Frontzeck seit Sommer 2009 Coach. Trotz zuletzt fünf Niederlagen in Folge und dem letzten Tabellenplatz hält die Vereinsführung an ihm fest. Sogleich wird Sportdirektor Max Eberl Unerfahrenheit und Naivität vorgeworfen.
Dieter Hoeneß, Manager vom VfL Wolfsburg, weiß um diese Abläufe und verweigerte gleich jede Auskunft zu seinem Trainer Steve McClaren, nachdem dessen Mannschaft im Achtelfinale des DFB-Pokals ausgeschieden war: „Zum Trainer gebe ich keinen Kommentar, sonst habe ich eine Trainerdiskussion.“ Ob er die „Mechanismen der Branche“ so leicht austricksen kann? Wohl kaum. MILAN JÄGER