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Archiv-Artikel

Ein politisches Urteil

VON BARBARA OERTEL

Fünf bulgarische Krankenschwestern und ein palästinensischer Arzt müssen weiter um ihr Leben bangen. Ein Gericht in der libyschen Hauptstadt Tripolis bestätigte gestern die gegen die Angeklagten verhängten Todesurteile. Die Verteidigung kündigte an, alle Rechtsmittel ausschöpfen und vor dem Obersten Gerichtshof in Berufung gehen zu wollen.

Den Bulgarinnen und dem Palästinenser, die bereits seit März 1999 in Haft sind, wird vorgeworfen, während ihrer Tätigkeit im Kinderkrankenhaus al-Fateh in Bengasi 426 Kinder absichtlich mit dem Aids-Virus infiziert zu haben. 51 der Kinder sind mittlerweile gestorben.

Im ersten Prozess im Juni 2001 sagten zwei der beklagten Krankenschwestern aus, durch Folter wie Elektroschocks zu Geständnissen gezwungen worden zu sein. Ein diesbezügliches Verfahren gegen zehn Libyer – acht Polizeioffiziere, einen Arzt sowie einen Übersetzer – endete im Juni 2005 mit dem Freispruch aller Beteiligten.

Auch eine internationale Expertise konnte die Verantwortlichen in Libyen nicht von ihren kruden Theorien abbringen. So hatten die beiden namhaften internationalen Aids-Spezialisten Luc Montagnier und Vittorio Colizzi im Rahmen eines zweiten Prozesses 2003 dargelegt, dass die Aids-Infektionen in Bengasi auf die schlechten Zustände in dem libyschen Krankenhaus zurückzuführen seien und bereits 1997 begonnen hätten. Das bulgarische Team hatte seine Arbeit im Krankenhaus al-Fateh aber erst rund ein Jahr später begonnen.

Dessen ungeachtet verhängte das Strafgericht in Bengasi 2004 die Todesurteile. Am 25. Dezember 2005 hob der Oberste Gerichtshof die Richtersprüche auf und verwies den Fall an eine untere Instanz zurück. Als Begründung nannte das Gericht Verfahrensmängel.

Der Urteilsverkündung wohnten die Angeklagten ohne Übersetzer bei. Angehörige der infizierten Kinder, die sich vor dem Gericht versammelt hatten, quittierten das Urteil mit Rufen wie „Allah ist groß“. Zuvor war einer der Verteidiger, Osmen Bizanti, niedergeschlagen worden, als er das Gerichtsgebäude betreten wollte.

Sein Mitstreiter in Sachen Verteidigung, Georgij Gatew, bezeichnete den Prozess als Parodie. In dieser Angelegenheit gehe es nicht um Recht, sondern einzig und allein um Politik. Der bulgarischen Seite dürften jedoch keine Vorwürfe gemacht werden, weil alles in den Händen Libyens liege, so Gatew in der bulgarischen Internetzeitung Mediapool.

Bulgariens Staatschef Georgi Parwanow und Regierungschef Sergei Stanischew zeigten sich gestern schockiert über das Urteil. Das Gericht habe internationale wissenschaftliche Berichte über die Gründe der Aids-Infektion ignoriert. Zudem seien während des Prozesses Menschenrechte verletzt worden, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung. Parwanow und Stanischew appellierten an Libyen, die „absurden Urteile“ in Namen der Gerechtigkeit zurückzuweisen, und forderten internationale Organisationen auf, Bulgarien dabei zu unterstützen, das Urteil zu kippen.

Der bulgarische Generalstaatsanwalt kündigte an, gerichtlich gegen die libyschen Beamten vorzugehen, die die Krankenschwestern gefoltert hätten. Libyen habe sich moralisch diskreditiert, weil es die Verhängung der Todesstrafe gegen Unschuldige zugelassen habe. Er glaube jedoch nicht, dass das Urteil vollstreckt werde.

Beobachtern zufolge ist nun mit einer Neuauflage von Verhandlungen über eine Entschädigung der Opfer zu rechnen. Tripolis hatte bereits mehrfach die Möglichkeit angedeutet, über die Todesurteile noch einmal zu verhandeln, sollte Bulgarien die Familien der Opfer angemessen entschädigen. Derzeit belaufen sich die Forderungen auf 10 Millionen Euro pro Kind. Doch bislang stellt sich Sofia stur: Entschädigungszahlungen kämen einem Schuldeingeständnis gleich und seien daher abzulehnen.