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Archiv-Artikel

Unter Menschen

Die Köchin Anja Cordsen hat wieder Arbeit gefunden. In einem Altenheim, wo der Tod Alltag ist. Für Anja Cordsen ist es ein guter Ort, weil er zeigt, dass man mit dem Tod auf gutem Fuß stehen kann. Und weil sie wieder unter Menschen kommt

von FRIEDERIKE GRÄFF

Es gibt wieder Arbeit, sagen die Politiker und freuen sich an den neuen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Manche sagen, dass die neue Arbeit schlechte Arbeit sei: kümmerlich bezahlt und nur auf Zeit. Andere denken über die Zukunft ohne Arbeit nach, zumindest ohne Lohnarbeit und ohne Festanstellung. Und manche finden Arbeit und stellen fest, dass es der richtige Ort für sie ist, obwohl sie nie Anstalten gemacht haben, dorthin zu gehen.

Im Eingang des Alten- und Pflegeheim in Wilstedt sitzen zwei Männer an der Tür. Sie reden nicht und sie gucken nicht auf, wenn jemand hereinkommt. Sie sind nur da. Es riecht nach Urin im Flur und an der Wand hängt ein Wochenplan. Unter Freitag steht: „Ab 10 Uhr Kreatives Gestalten. Einzelbetreuung. Einstimmung ins Wochenende“. Die Küche, in der Anja Cordsen ihre neue Arbeit gefunden hat, liegt direkt gegenüber. „Klein, aber unser“, sagt sie.

In der Küche stehen Edelstahlschränke, ein Backofen und ein großer Herd. „Hauswirtschafterin“ steht auf dem Schild an Anja Cordsens weißem Kittel. Sie hat dazu eine Art Baseballkappe umgekehrt auf dem Kopf, so dass sie aussieht wie eine Mischung aus Köchin und Seemann. Die alten Leute dürfen nicht in die Küche. „Wegen der Messer“, sagt Anja Cordes. Die meisten Bewohner sind dement. Der schmale Herr Wurkatz ist eine Ausnahme. „Er macht noch beim Wilstedter Lauf mit“, sagt Anja Cordes. Heute trägt er Plastiksandalen und eine rote Kappe, er ist sehr beschäftigt damit, die Tassen für den Nachmittagskaffee in den Aufenthaltsraum zu bringen. Manchmal schenken ihm die Hauswirtschafterinnen eine Zigarre. Diejenigen, die nicht mehr so gut beieinander sind wie Herr Wurkatz, werden beschäftigt. Die Ergotherapeutin schält mit ihnen Kartoffeln und manchmal backen sie auch Waffeln.

In dem halben Jahr, in dem Anja Cordes arbeitslos war, musste sie nicht beschäftigt werden. Freunde haben sie fürs Renovieren eingespannt, sie hat Kinder gehütet, Bewerbungen geschrieben und gezeichnet, mit Bleistift und nach Vorlage, gerne Blumenbilder. „Das halbe Jahr hat mir nicht weh getan“, sagt sie und man weiß nicht, ob es daran liegt, dass sie sich gut selbst beschäftigen kann oder daran, dass die vorangegangen Jahre so schwierig waren, dass ein halbes Arbeitslosigkeit im Vergleich wenig zur Sache tat. 1989 ist ihre Mutter nach zwei Jahren Krankheit mit 54 Jahren an Krebs gestorben, die Großmutter starb 1999 und fünf Jahre zuvor ihr Bruder, der nur 32 Jahre alt wurde. „Er war vielleicht behindert“, so vorsichtig sagt es Anja Cordes. Er hatte eine Krankheit, die Multiple Sklerose ähnelt und dazu führt, dass das Gehirn keine Befehle mehr an die Muskeln weitergibt. „Der Zerfall hat mich mitgenommen“, sagt Anja Cordes. Sie hat die Arbeitslosigkeit schon vorher bei Freunden erlebt. „Die meisten schämen sich“, sagt sie. „Und ihnen wird nach sechs Wochen langweilig“.

Sie selbst musste sich um das Geld während der Arbeitslosigkeit wenig Gedanken machen, weil sie zu Hause bei ihrem Vater lebt und mit wenig auskommt. Bei den Freunden war es anders, so dass sie einmal losgegangen ist, als sie merkte, dass der Kühlschrank des Freundes zu leer war und kam mit zwei vollen Einkaufstüten zurück. Der Freund weinte.

Eigentlich wäre Anja Cordes gerne technische Zeichnerin geworden. Aber beim Praktikum in den Bremer Stahlwerken, wo ihr Vater arbeitete, sagten ihr die Leute aus dem Büro: „Technische Zeichner werden bald gar nicht mehr gebraucht“. Sie meinten, dass immer mehr mit Schablonen gearbeitet werde und die Leute vom Arbeitsamt rieten ihr, etwas Handwerklicheres zu machen.

Anja Cordes kochte gern, ihre Mutter und ihre Großmutter hatten es ihr beigebracht und so hat sie eine Lehre als Köchin gemacht, in einem Restaurant am Bremer Bürgerpark. „Schon etwas Edleres“, sagt sie. Es hat ihr Spaß gemacht und sie mochte ihren Küchenmeister, der auch denen, die ein bisschen länger brauchten, beibrachte, was sie eigentlich in der Berufsschule hätten lernen sollen: Wie die Körperteile der Tiere heißen und wie man sie anatomisch zuordnet. Sie hat dann in einem Schweizer Spezialrestaurant gearbeitet und in ein paar anderen Restaurants, wo man „à la carte“ kocht und anschließend „etwas Ruhigeres gesucht“. Das Ruhigere war eine Kantine, bis dort ein neuer, junger Chef begann. „Ich kam mir vor wie ein alter Esel“, sagt Anja Cordes. „Ich arbeite gern, es stört mich nicht. Aber ich brauche ein bisschen Anerkennung.“

Als der neue Chef erfuhr, dass sie sich anderweitig bewarb, entließ er sie. Sie schrieb erfolglos Dutzende von Bewerbungen, bis die „bras“, eine Bremer Einrichtung zur Vermittlung und Qualifizierung von Arbeitslosen, sie befristet einstellte, um arbeitslosen jungen Mädchen Hauswirtschaft beizubringen. Man könnte das ironisch finden, aber Anja Cordes tat das nicht. Sie zeigte den Mädchen, wie man Servietten faltet und brachte ihnen bei, wie man Pralinen herstellt und nebenbei auch, wie man eine Unterhaltung führt, ohne sich anzuraunzen und vor allem freute sie sich, als die Mädchen anfingen, von sich aus etwas zu tun.

Dann riefen die Mitarbeiter der „bras“ sie an, um sie fragen, ob sie als Köchin in Wilstedt arbeiten wolle. Die Frau, der sie die Stelle zuerst angeboten hatten, wollte nicht in einem Altenheim arbeiten. Anja Cordes arbeitete drei Wochen zur Probe. „Ich wollte es schaffen“, sagt sie und so hat sie versucht, sich die Namen der Leute zu merken, wenn sie ihnen das Essenstablett brachte und störte sich nicht an den „Hallo“-Rufen der Verwirrten, die ins Nirgendwo gehen. Anschließend fragte man sie, ob sie bleiben wolle und Anja Cordes wollte. Es ist ein guter Ort für sie, vielleicht gerade deshalb, weil die Leute hier mit dem Tod auf gutem Fuß stehen. Nicht so sehr in Wilstedt, wo die meisten Leute zu verwirrt sind, um mit irgendjemandem auf gutem Fuß zu stehen, aber in Worpswede, wo das zweite Altenheim des Trägers ist und wo die Leute noch besser beieinander sind. „,Irgendwann ist es Zeit‘, meinen die alten Leute dort. ,Wir können darüber reden, es ist doch nichts Schlimmes‘“, so erzählt es Anja Cordes.

Die alten Leute seien dankbar für jedes Wort, schließlich kämen sie nicht mehr hinaus und zu ihnen machten sich nur wenige auf den Weg. Anja Cordes dachte lange Zeit, dass sie möglichst wenig mit anderen zu tun haben wolle. Aber wenn man sie fragt, was ihr gut tue an der Arbeit, dann sagt sie: „Man ist mehr unter Menschen.“