piwik no script img

Archiv-Artikel

„Die Künstler waren die Eisbrecher“

KUBA Die Prämisse der nationalen Unabhängigkeit hat die Kubaner vieler Freiheiten beraubt, sagt Leonardo Padura. Und erzählt über seinen neuen Kriminalroman „Ketzer“, die politisch-kulturellen Veränderungen auf Kuba und den Traum eines Lebens in Würde

Leonardo Padura

■ Der Schriftsteller, 58, aus Havannas Stadtteil Mantilla ist ein aufmerksamer Beobachter der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der kubanischen Insel. Sein neues Buch „Ketzer“ ist 2014 im Unionsverlag Zürich erschienen. Aus dem Spanischen von Hans-Joachim Hartstein. 656 Seiten, 24,95 Euro.

INTERVIEW KNUT HENKEL

taz: Herr Padura, der Kriminalroman ist in Kuba, anders als in Mexiko oder Argentinien, nicht gerade populär. Werden die Möglichkeiten des Genres unterschätzt?

Leonardo Padura: Eindeutig ja. Denn während das Genre des Kriminalromans mit sozialen Hintergründen in Europa und den USA boomt, halten sich Kubas Schriftsteller zurück. Viele Autoren denken, glaube ich, dass der Kriminalroman als Genre nicht künstlerisch genug ist. Das ist ein Irrtum, denn ich habe eine ganze Reihe von Preisen für Kriminalromane gewonnen, die nicht spezifisch für das Genre ausgelegt sind.

Der gesellschaftliche Wandel auf der Insel ist immer wieder Thema in Ihren Kriminalromanen. Ist dieser Wandel auch ein Thema in der kubanischen Gegenwartsliteratur?

In Kuba wird viel über den gesellschaftlichen Wandel geschrieben, allerdings oftmals ohne internationale Bezüge. Die Folge der limitierten Perspektive der Autoren ist, dass ihre Romane nur national wahrgenommen werden. Es gibt nur wenige Autoren der jüngeren Generation, die international wahrgenommen werden, so wie Wendy Guerra oder Karla Suárez. Der internationale Markt ist sehr verschlossen und kompliziert.

Ein zentrales Thema Ihres neuen Romans „Ketzer“ ist die jüdische Diaspora in Havanna. Wie kamen Sie auf die Idee, sich mit jüdischer Geschichte, der Auswanderung nach Kuba zu beschäftigen?

Ich wollte einen Roman über die „Freiheit“ schreiben. Dazu hat mich eine junge Emo, ein Fan des Musikgenres Emotional Hardcore, inspiriert. Also habe ich mir überlegt, wie ich dem Thema gerecht werden könnte, ohne nur auf die kubanische Realität und die Popularität der Emo-Kids auf der Insel Bezug zu nehmen. Bei meinen Recherchen bin ich schließlich im 16. Jahrhundert gelandet. Damals genossen die europäischen Juden in Amsterdam ein ungewöhnlich hohes Maß an Freiheit. Sie konnten ihrer Religion nachgehen, sich beruflich frei entfalten. Mir geht es um ein universelles Thema: der Suche nach Freiheit, der persönlichen Freiheit, entscheiden zu können, wie man lebt, wo man lebt und was man macht.

In Kuba wurde diese Freiheit …

… lange Jahre negiert. Alle, die gegen die Leitlinie waren, wurden als Konterrevolutionäre bezeichnet. Wer homosexuell war, war konterrevolutionär. Wer sich als Katholik zu erkennen gab: Konterrevolutionär. Die Prämisse der nationalen Freiheit und Unabhängigkeit hat uns vieler individueller Freiheiten beraubt.

Sie glänzen mit einem profunden Wissen der jüdischen Geschichte Kubas. Woher haben Sie die Details in dem Roman, über die Bäckerei Flor de Berlin, wo einer Ihrer Protagonisten arbeitet, und die zahlreichen Schauplätze in der Altstadt gefunden?

Im jüdischen Viertel Havannas ist meine Mutter aufgewachsen. Ich bin mit Verwandten, aber auch mit einem in den USA lebenden kubanischen Juden durch das Stadtviertel spaziert. Ich habe aber auch Studien zum jüdischen Leben in Havanna aufgesaugt, mehrfach mit der Historikerin Maritza Corrales zusammengesessen. So ist mir das Viertel immer vertrauter geworden.

Allerdings spielt rund ein Drittel des Buches in Amsterdam, ein weiterer Teil in Miami. Waren Sie dort auf Recherche?

Ja. Ich habe immer versucht, an die Orte zu gelangen, wo meine Bücher spielen, auch wenn das nicht immer möglich war. Wie zum Beispiel im Kontext der Recherchen zu „Der Mann, der Hunde liebte“. Dafür war ich in Moskau, in Mexiko-Stadt, in Paris, wo Trotzkis Mörder eine Zeit lang lebte, aber eben nicht in Kasachstan. Für „Ketzer“ war ich nun eben in Holland und in Miami Beach, wo es heute eine aktive jüdische Gemeinde kubanischen Ursprungs gibt.

Ihre Romane haben sich mehr und mehr ins Ausland verlagert – ist das eine direkte Folge der neuen Reisefreiheit für Kubaner?

An eine Reise wäre früher nicht zu denken gewesen, aber nicht nur wegen der fehlenden Reiseerlaubnis, sondern wegen der fehlenden Mittel. Es sind die Leser, vor allem in Europa, die es mir ermöglichen zu reisen, weil sie meine Bücher kaufen.

In „Ketzer“ taucht mehrfach der „neue Mensch“ auf, jener Traum „Che“ Guevaras vom sozialistischen Modellmenschen kubanischer Prägung.

Die kubanische Realität hat den Traum vom „neuen Menschen“ niedergewalzt. Ein beachtlicher Teil der kubanischen Jugend träumt davon zu emigrieren, um so die eigenen Probleme zu lösen. Sie glauben nicht an kollektive Lösungen, und aus dieser Perspektive hat es wenig Sinn, über den „neuen Menschen“ zu sprechen. In der Realität haben wir es mit einer Deformation des „neuen Menschen“ und einem Verlust von zentralen Werten zu tun. Das ist ein gravierendes Problem in Kuba.

Wie äußert sich das im kubanischen Alltag?

Zunahme von Gewalt, fehlender Respekt vor Frauen. Aber auch in spiritueller Armut und der Entwicklung einer aggressiven Pop-Musik, dem Reggaeton. Kubas Jugendkultur hat sich verändert, sie erinnert an das Lumpenproletariat längst vergangener Zeiten. In Havanna sind heute mehr Tätowierungen, mehr Irokesenschnitte, mehr Piercings als hier in Deutschland oder in den USA zu sehen. Jedenfalls ist das mein Eindruck.

Folgerichtig gibt es heute mehr persönliche Freiheiten in Kuba?

Ja, definitiv. Dennoch fehlt es an zivilen Rechten. Die Regierung legt viel Wert auf die Menschenrechte. Dabei geht es ihr aber in erster Linie um das Recht auf Bildung, Gesundheitsversorgung, und Nahrung. Aber auf der anderen Seite gibt es de facto keine Versammlungsfreiheit oder Organisationsfreiheit. Auch Presse- und Meinungsfreiheit sind limitiert.

Kommt dem Kulturbetrieb in der Kritik eine Art Türöffnerfunktion zu?

Ja, die Künstler waren die Eisbrecher. Filme wie „Erdbeer und Schokolade“, ein Film über eine homosexuelle Liebe in Kuba, Theateraufführungen, Lesungen und Ausstellungen bildender Kunst sorgten für Debatten, für Bewegung in der Gesellschaft.

Ihr Detektiv Mario Conde muss sich abstrampeln, um 500 Peso (ca. 21 Euro) im Monat zu verdienen. Er kommt damit kaum über die Runden. Ist das typisch für das heutige Kuba?

Definitiv, an der Wirtschaft hängt in Kuba alles, auch die kulturelle Entwicklung. Die Menschen in Kuba arbeiten buchstäblich, um zu überleben, denn der Lohn reicht in aller Regel nur für das Nötigste. In einem derartigen Umfeld hat es die Kultur schwer, denn sie ist kostspielig.

Sie haben in „Ketzer“ letztlich drei Romane zu einem einzigen verknüpft. Einen über die weltoffene Stadt Amsterdams zu Lebzeiten Rembrandts, einen über jüdisches Leben in Kuba und einen über kubanische Jugendkultur im 21. Jahrhundert. Warum?

Ich habe mich bemüht, jeder Geschichte bestimmte Charakteristika zu verleihen, Personen, eine Dramaturgie, eine spezifische Art, und das hat gedauert. Mehr als vier Jahre habe ich an dem Buch gearbeitet, viel gelernt zum Beispiel über die Maltechnik von Rembrandt van Rijn, denn schließlich steht eines seiner Bilder im Zentrum des Geschehens.

Sie haben 2012 den nationalen Literaturpreis erhalten. Hat der einen Effekt gehabt?

Eigentlich nicht. Ich habe eine Urkunde, die an der Wand in meinem Haus hängt – das war es. In Kuba dreht sich alles um die Wirtschaft, die ein Desaster ist. Um Politik oder Kultur nur dann, wenn es systemrelevant ist. Bei einigen Musikern, Theatermachern ist das der Fall, alle anderen werden nicht unterstützt.

Gleichwohl ist das Spielfeld für die Literatur in Kuba größer geworden?

Ja, ohne Zweifel, nicht nur für mich. Ich bin nicht privilegiert. Wenn man mir in den Hintern treten will, dann macht man das, ohne lange zu fackeln. Egal ob ich den nationalen Literaturpreis oder den Nobelpreis hätte. Es gibt niemanden in Kuba, der nicht angreifbar wäre. Nehmen Sie das Beispiel von Carlos Lage (ehemals Vizepräsident des Staatsrats) oder Filipe Pérez Roque (ehemaliger Außenminister), die in der politischen Hierarchie weit oben waren, und von einen Tag auf den anderen ihre Ämter verloren. In diesem Kontext bin ich nicht mehr als eine Ameise.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die Zukunft der Insel?

Die wirtschaftliche Situation der Insel muss wieder ins Lot kommen, denn die Löhne reichen bei fast allen Kubanern hinten und vorne nicht. Trotzdem kostet die Produktion einer Tonne Zucker in Kuba mehr als der Verkaufspreis – wir sind grenzenlos unproduktiv. Wir leben in einem System, das wirtschaftlich gescheitert ist, und bis heute fehlt es an den ökonomischen Lösungen.

Wie sieht Ihr Traum der kubanischen Zukunft aus?

Ich träume davon, dass ein kubanischer Arzt wieder in Würde von seinem Lohn leben kann. Wir Kubaner müssen wieder davon leben können, was wir produzieren, was wir verdienen. Heute ist das Gegenteil der Fall, denn ein Arzt verdient oft mehr durch die Geschenke der Patienten als durch das Gehalt des Staates. Und ich war erst kürzlich im Krankenhaus und habe mir anschauen können, was die Ärzte und Schwestern leisten – für einen Scheißlohn.