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Archiv-Artikel

„Offiziell gab es uns nicht“

AUFARBEITUNG In Lagern der sowjetischen Besatzungszone waren in den 50ern nicht nur Erwachsene inhaftiert. Auch Kinder kamen dort zur Welt und verbrachten Jahre hinter Gittern. Diese Geschichten sind kaum erforscht, sagt Alexander Latotzky, der selbst im Lager geboren wurde

Alexander Latotzky

■ 66, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er hat Kunst und Sport auf Lehramt studiert. Danach arbeitete er in der Erwachsenenbildung, später in der Gedenkstätte Hohenschönhausen und im Mauermuseum „Haus am Checkpoint Charlie“. In seiner Freizeit hat er früher die Rugby-Nationalmannschaft der Frauen trainiert. Für seine Forschungsarbeit erhielt er im Jahr 2010 den Bürgerpreis zur Deutschen Einheit.

INTERVIEW HANNAH KÖNIG

taz: Herr Latotzky, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Kindern, die in sowjetischen Lagern und in DDR-Gefängnissen zur Welt kamen. Wie sind Sie dazu gekommen?

Alexander Latotzky: Durch meine eigene Geschichte. Ich wurde am 18. April 1948 im sowjetischen Speziallager Bautzen geboren und später mit meiner Mutter nach Sachsenhausen verlegt.

Wann haben Sie angefangen, sich mit Ihrer Geschichte auseinanderzusetzen?

Das war am Tag der Wiedervereinigung. Damals bin ich mit meiner Familie nicht wie viele andere zum Brandenburger Tor gefahren, sondern nach Sachsenhausen. Meine Kinder wussten von nichts. Als wir durch das Lager gegangen sind, kamen die ganzen Erinnerungen zurück, die ich so lange verdrängt hatte. Danach habe ich beschlossen, meine Geschichte aufzuarbeiten – und bin dabei auf die Geschichten vieler anderer gestoßen.

Sie haben sich Ihrer Vergangenheit erst spät gestellt. Warum ausgerechnet an diesem Tag?

Das weiß ich bis heute nicht. Es war eine Entscheidung aus dem Bauch heraus. Davor habe ich nie einen Grund gesehen, darüber zu reden. Man schiebt solche Erinnerungen zur Seite und versucht einfach, ein normaler Mensch zu sein. In der DDR durfte man nicht darüber sprechen, im Westen wollte es keiner hören. Das ist teilweise bis heute so. Dabei wollen wir kein Mitleid. Wir wollen nur, dass gewusst und respektiert wird, was dort passiert ist.

Sie sind nicht der Einzige, der in einem solchen Lager geboren wurde. Ihr Ziel ist es, irgendwann die Namen aller Betroffenen zusammenzutragen. Gibt es Schätzungen, wie viele Kinder Ihr Schicksal teilen?

Auf meiner Liste stehen mittlerweile 103, aber es ist extrem schwierig zu sagen, wie viele es wirklich waren. Da wir nicht offiziell registriert wurden, tauchen wir oft nur in Krankenakten oder Häftlingskarteikarten auf.

Auf Ihrer Homepage finden sich heute viele Zeugenberichte von Müttern und Kindern. War es schwierig, andere Betroffene zu finden?

Seit 1997 haben wir uns regelmäßig getroffen. Jeder kannte dann wieder zwei oder drei andere Betroffene. Es war wie ein Schneeballsystem. 1999 ist daraus sogar ein zweijähriges Forschungsprojekt entstanden, das durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert wurde.

2001 haben Sie die Ergebnisse Ihrer Forschung als Buch veröffentlicht. Die sowjetischen Speziallager standen schon häufiger im Fokus von Historikern. Trotzdem gibt es bis heute kaum Forschung über die Kinder, die dort lebten.

Es verwundert mich sehr, dass ich bis jetzt der Einzige bin, der sich damit beschäftigt hat. Vielleicht liegt es daran, dass wir eine relativ kleine Gruppe sind.

Sie haben sich in Ihrer Forschung nur mit den Lagern der sowjetischen Besatzungszone auseinandergesetzt. Kinder gab es aber auch in den alliierten Internierungslagern im Westen.

Ja, aber die Bedingungen waren dort ganz andere. Die Baracken wurden dafür hergerichtet, kleine Betten gezimmert. Das zeigt, dass man mit dem Thema auch anders hätte umgehen können.

Wie sah der Alltag in den Lagern aus?

Er war für alle sehr monoton. Anders als bei den Nationalsozialisten war jegliche Arbeit verboten. Sie war sogar ein Privileg, denn wer arbeitete, bekam mehr zu essen. Auch Bücher, Schreibzeug oder Stricknadeln waren verboten. Viele sind daran kaputtgegangen. Die Todesrate in den Lagern war sehr hoch. Jeder Dritte ist verhungert oder erfroren.

Wie wurden Mütter und Kinder in den Lagern behandelt?

Sie wurden total isoliert. Innerhalb des Frauenlagers gab es einen abgetrennten Bereich. Weil die Kinder keine richtigen Schuhe hatten, konnten sie gerade im Winter kaum die Baracken verlassen. Bis heute treffe ich immer wieder Leute aus den Lagern, die mir sagen, dass sie nie ein Kind gesehen haben. Offiziell gab es uns einfach nicht. Deshalb erhielten die Kinder bis 1949 auch keine eigenen Essensrationen.

Wie konnten die Kinder unter diesen Umständen überhaupt überleben?

Viele haben es nicht überlebt. Geholfen hat aber sicher die große Solidarität unter den Frauen. Wenn zum Beispiel eine Mutter starb, wurde ihr Kind einfach einer anderen Frau zugeteilt, deren Kind verstorben war. Sie nahm es dann an wie ihr eigenes. In Sachsenhausen bekamen die Mütter am Tag nur eine Flasche Milch für fünf Kinder. Wer konnte, hat deshalb nicht nur die eigenen Kinder gestillt, sondern auch die der anderen. Teilweise haben die Frauen sogar den Kalkputz von den Wänden gekratzt, damit die Kinder mehr Calcium bekommen.

Sie selbst können sich daran aber nicht mehr erinnern, oder?

Nein, ich war damals noch viel zu jung.

Ihre Mutter lebte ab 1946 in sowjetischer Gefangenschaft. Wissen Sie heute, warum sie inhaftiert wurde?

Offiziell wegen Spionage für einen ausländischen Nachrichtendienst. Mittlerweile habe ich herausgefunden, dass sie 1946 ihre eigene Mutter, meine Großmutter, erdrosselt und vergewaltigt in ihrer Wohnung in Schöneberg fand. Zwei sowjetische Soldaten saßen noch betrunken im Nebenzimmer. Meine Mutter zeigte die beiden an. Kurz danach wurde sie auf einer Bahnfahrt in Senftenberg verhaftet und von einem sowjetischen Tribunal zu 15 Jahren Straflager verurteilt.

Schwanger wurde sie aber erst im Lager …

Ja, dort verliebte sie sich in einen sowjetischen Wachsoldaten. Als herauskam, dass sie von ihm schwanger war, wurde er in den Gulag geschickt. Ihr erzählte man, er sei zum Tode verurteilt worden. Dass er noch lebte, habe ich erst bei meiner Recherche herausgefunden. Ich habe ihn später auch getroffen.

Sie wurden in Bautzen geboren und dann nach Sachsenhausen verlegt. Dort verbrachten Sie die ersten zwei Jahre Ihres Lebens, bis das Lager 1950 aufgelöst wurde. Danach wurden viele Kinder von ihren Müttern getrennt.

Die Frauen wurden zur weiteren Strafverbüßung an die DDR übergeben und auf Viehwaggons ins Frauengefängnis Hoheneck gebracht. Weil dort nicht genug Platz für uns Kinder war, erzählte man den Müttern, wir müssten zu einer medizinischen Untersuchung. Während die Frauen in den Zellen warteten, wurden wir auf Fahrzeuge verladen und abtransportiert. Zunächst kamen wir in ein Krankenhaus, dann wurden wir auf verschiedene Kinderheime aufgeteilt.

Haben Sie noch Erinnerungen an die Zeit im Heim?

Das ist immer noch ein heikler Punkt für mich, über den ich nicht rede. Die Heimleiter hatten die Anweisung, die Kinder politischer Gefangener anders zu behandeln. Wir durften zum Beispiel keinen Besuch empfangen. Am schlimmsten war für uns, dass wir keine Pioniere werden durften. Für ein Kind in der DDR war das ein großes Ereignis. Uns wurde immer gesagt, wir könnten keine Pioniere werden, weil unsere Mütter etwas Schlimmes gemacht hätten. So wurde von klein auf eine Distanz zu unseren Eltern hergestellt.

Trotzdem ließ man Sie am Ende zurück zu Ihrer Mutter.

Ja. 1954 lebte ich für einige Zeit bei einer Familie, die mich gern bei sich aufnehmen wollte. Um mich nicht zu verlieren, erklärte meine Mutter sich schließlich bereit, für die Stasi zu arbeiten. Nach zehn Jahren im Lager wurde sie begnadigt und erhielt vom KGB den Auftrag, als Spionin nach Westberlin zu gehen. So ganz vertraut hat man ihr aber nicht. Deshalb blieb ich als Faustpfand in Ostberlin zurück. Tatsächlich waren sämtliche Spitzelberichte frei erfunden. Aber irgendwann glaubten ihr die Stasi und der KBG. Mit neun wurde ich schließlich zu ihr entlassen.

Ein schwieriges Wiedersehen – Ihre Mutter war ja quasi eine fremde Frau für Sie.

Es war auf jeden Fall eine seltsame Situation. Sie lief auf mich zu, heulte und riss mich in ihre Arme. Ich konnte erst mal nicht viel mit ihr anfangen und habe sie gesiezt. Das hat ihr sehr wehgetan. Aber irgendwann haben wir zusammengefunden.

Im Mauermuseum führen Sie Schüler durch die Geschichte der DDR, manchmal erzählen Sie Anekdoten oder Witze. Fällt es Ihnen heute leicht, über Ihre Vergangenheit zu lachen?

Das ist meine Form der Aufarbeitung. Ich versuche, das Ganze mit Abstand zu sehen. So verhindere ich auch, dass die Geschichte wieder zu dicht an mich herankommt. Gerade vor Schülern kann man nicht eine Stunde lang bierernst erzählen, wenn man ihr Interesse wecken will. Die Leute sollen ja informiert und nicht deprimiert werden.

■ Das nächste Treffen der Lagerkinder findet vom 20. bis 22. Juni in der Gedenkstätte Sachsenhausen statt und steht allen Interessierten offen. Ab dem 21. Juni kann dort auch die Wanderausstellung „Kindheit hinter Stacheldraht“ besichtigt werden. Mehr unter www.kindheit-hinter-stacheldraht.de