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Archiv-Artikel

Das gab’s noch nicht im Kiez

BAR Türkische Musik, Ausstellungen von Künstlern und Nachbarschaftstreffen – die Bar E & S in der Reichenberger Straße in Kreuzberg bringt Leute zusammen, die sich abends sonst eher nicht treffen würden

„Sing uns ein kurdisches Volkslied!“ Mustafa lässt sich nicht lange bitten

VON KARIN FLOTHMANN

Wenn er die Saiten seiner Baglama traktiert, dann dreht Mustafa auf. Er lacht, während er spielt, manchmal singt er zu seiner türkischen Laute, und es ist offensichtlich, dass es ihm Spaß macht, zu spielen. „Dann geht Mustafa richtig ab“, sagt Güngör Gülfirat. Samstagnacht gegen halb zwei kommt Mustafa zurück in die Ecke, in der die Instrumente liegen. „Der Chef meint, wir sollten noch eine Zugabe spielen“, sagt er und zwinkert Güngör zu.

Die rund 30 Besucherinnen und Besucher der Bar E & S in der Reichenberger Straße sind begeistert und applaudieren. Ein junger Mann am Tresen ruft: „Sing uns ein kurdisches Volkslied!“ Mustafa lässt sich nicht lange bitten. Flötentöne von Thorsten erklingen, der heute Abend mitspielt, und Mustafa stimmt ein kurdisches Volkslied an.

Der „Chef“, das ist Güngör Gülfirat. Seit dem Spätsommer letzten Jahres kümmert sich der 41-Jährige nicht nur um seinen Lottoladen, in dem er tagsüber Zigaretten, Zeitschriften und Lotteriescheine verkauft, sondern auch um seine Bar E & S. Mustafa ist „ein guter Kumpel“ vom ihm. Der kam auf die Idee, dass es doch ein bisschen Pepp in die Bar bringen würde, wenn er mit wechselnden Musikern samstagabends live auftreten würde.

Mit Handschlag

Gespielt wird seit September – mal Jazz, mal Soul oder Funk, mal türkische oder kurdische Volksmusik, mal all das in bunter Mischung. Selten fehlt die Baglama, oft begleitet von Kontrabass, Percussion oder Geige. Und ab und an ist auch mal ein Piano oder ein Saxofon mit dabei. Das Publikum goutiert das. Zumal Güngör jeden, den er öfter in seiner Bar sieht, sofort persönlich mit Handschlag begrüßt. Kennt man sich länger, kommen die üblichen gehauchten Küsschen hinzu. Nachbarn aus dem Kiez kommen, junge und alte, türkische und deutsche Gäste mischen sich, und manchmal improvisiert ein junger Afrodeutscher ein paar Beat-Box-Klänge zur Musik von Mustafa und seinen wechselnden Musikern.

„Erstaunlich, dass ich hier zum ersten Mal ganz in Ruhe türkische Volkslieder in einer Kreuzberger Bar hören und dabei chillen kann“, meint ein Junge mit Rastalocken. Und die Nachbarin von gegenüber weiß: „So was hat es hier im Kiez bisher nicht gegeben. Dabei leben die türkischen Familien doch schon gut 50 Jahre mit uns hier.“ „Stimmt eigentlich“, meint Güngör Gülfirat. Daran habe er noch gar nicht gedacht. Als er den Laden übernahm, in dem sich zuvor türkische Männer bei TV, Tee und Neonlicht trafen, hatte er vor allem im Hinterkopf, dass er Künstlern einen Raum bieten wollte, in dem sie ihre Bilder und Werke zeigen können. Und so finden im E & S in unregelmäßigen Abständen Vernissagen statt. Das Neonlicht ist längst Stehlampen und gedämpften Strahlern gewichen. Sofas und Stühle gruppieren sich um runde und eckige Tischchen. Und wenn der Andrang zu groß wird, gibt es auch noch Sitzkissen für die Gäste.

Mittwochs trifft sich in der Regel die Nachbarschaft im E & S. Dann wird diskutiert, über die steigenden Mietpreise im Kiez. Oder über das unschöne Luxusgebilde an der Reichenberger Ecke Liegnitzer, in dem ängstliche Porschefahrer ihre Autos per Aufzug mit auf die Etage ihres Appartements nehmen können. Und wo allabendlich ein Wachschutz im Containerhäuschen darauf aufpasst, dass nicht wieder Scheiben eingeschlagen oder Farbbeutel gegen die Fassade geschmissen werden. Am Sonntagnachmittag lädt die Nachbarschaftsversammlung auch schon mal außer der Reihe ins E & S, um Anwohner über unkorrekte Betriebskostenabrechnungen und betrügerische Vermieter aufzuklären.

„E & S, das steht für elegant und schön“, meint Güngör und grinst. In Wirklichkeit stehen die beiden Initialen für Elvan und Sila, „das sind meine beiden Töchter“. Geboren ist Güngör in Erzincan in Ostanatolien. Darauf ist er noch heute stolz. Obwohl er die längste Zeit seines Lebens, seit 1973, in Berlin lebt. Seine Familie gehörte zu jenen anatolischen Auswanderern, die aufgrund mangelnder Arbeitsmöglichkeiten ihrer Heimat den Rücken kehrten. Eigentlich ist Güngör Ingenieur. „1996 habe ich mein Diplom in Maschinenbau an der TFH gemacht“, erzählt er. Doch einen Job hat er als Ingenieur nie gefunden. Seit mehr als zehn Jahren steht er stattdessen in seinem Lottoladen schräg gegenüber vom E & S. „Das Diplom hängt jetzt auf meiner Toilette – natürlich im Bilderrahmen.“

■ Café Bar E & S, Reichenberger Straße 115a. Mittwoch bis Freitag ab 20 Uhr Livemusik, Samstag ab ca. 22 Uhr