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Archiv-Artikel

„Wir versuchen aus dem Wrangelkiez zu lernen“

Die Gewaltbereitschaft junger Männer in Neukölln oder Kreuzberg steigt. Polizeipräsident Glietsch setzt auf die Zusammenarbeit mit der Kiezjugend

von PLUTONIA PLARRE

taz: Herr Glietsch, welchen Herausforderungen sieht die Berliner Polizei 2007 entgegen?

Dieter Glietsch: Im Zusammenhang mit der EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands erwarten wir eine Vielzahl von Einsätzen. Es wird vermutlich nicht nur deutlich mehr Staatsbesuche in Berlin geben, sondern auch mehr Demonstrationen als in den vergangenen Jahren. Auch der 1. Mai bedeutet noch einmal eine Herausforderung.

Die Betonung liegt auf „noch einmal“?

Wir sind auf einem sehr guten Weg. Es ist viel erreicht. Aber wir wollen nicht das Risiko eingehen, dass wir einen Rückfall erleiden, weil wir die Dinge nicht mehr so ernst nehmen. Immerhin ist es der 20. Jahrestag der Maikrawalle …

die 1987 ihren Anfang nahmen.

Das wird in der Szene bereits ausgiebig thematisiert. Dazu kommt, dass wir in Heiligendamm den G-8-Gipfel haben. Wie sich das auf die Aktivitäten der militanten Linken auswirkt, wissen wir noch nicht genau. Vorrangiges Ziel der Polizeiarbeit 2007 wird aber die Bekämpfung der Gewaltkriminalität sein – in der Repression wie in der Prävention. Das interkulturelle Zusammenwirken mit den Menschen in den Kiezen hat für die Polizei auch unter diesem Aspekt einen sehr hohen Stellenwert.

Bleiben wir bei der Gewaltkriminalität. 2006 sind die Delikte um 5 Prozent gestiegen.

Damit ist der Rückgang um 5 Prozent, den wir 2005 hatten, leider wieder ausgeglichen.

Was können Sie über die Tatverdächtigen sagen?

Junge Männer nichtdeutscher Herkunft sind unter den Tatverdächtigen überproportional vertreten. Der Anteil wächst, sieht man einmal von 2005 ab, seit Jahren kontinuierlich. Der Anteil der jungen Deutschen hingegen geht zurück. Die Altersgruppe, die uns am meisten Sorgen bereitet, sind Jugendliche zwischen 14, 15 Jahren bis Anfang, Mitte 20.

In letzter Zeit ist viel von so genannten Problemkiezen die Rede. Gibt es dort mehr Kriminalität als in anderen Stadtteilen?

Bei bestimmten Problemen der Kriminalität ist das nicht zu bestreiten. In meiner viereinhalbjährigen Amtszeit hat mich kein Thema so beschäftigt wie die Kiezproblematik unter dem Aspekt der zunehmenden Gewaltbereitschaft. Das gilt besonders für Teile von Neukölln, Moabit, Kreuzberg und Wedding, aber nicht nur dort. Wir haben immer dort eine hohe Kriminalität von jungen Männern zu verzeichnen, wo ein hoher Anteil von Menschen lebt, die seit Jahren, zum Teil seit Jahrzehnten sozial ausgegrenzt sind. Das betrifft nicht nur Migranten. Bei den Familien ausländischer Herkunft kommt allerdings verschärfend hinzu, dass zu Hause oftmals kaum deutsch gesprochen wird. Das wirkt sich negativ auf die Bildungs- und Berufschancen der Kinder aus. Die jungen Männer, mit denen wir es zu haben, hängen in der Regel den ganzen Tag auf der Straße herum.

Bezogen auf den Kreuzberger Wrangelkiez sahen Teile der Presse jüngst beinahe Pariser Verhältnisse erreicht.

Mit so einer Berichterstattung wird ein falscher Eindruck erweckt. Der Wrangelkiez ist von französischen Verhältnissen weit entfernt. Das gilt auch für die anderen Stadtteile. 2006 hat es keinen einzigen Einsatz gegeben, der bei nüchterner Betrachtung die Sorge gerechtfertigt hätte, die Sache geriete der Polizei außer Kontrolle.

Was den Wrangelkiez betrifft, hat sich die Polizei die aufgeregte Berichterstattung selbst zuzuschreiben. Den Anfang hat eine Pressemitteilung Ihrer Behörde gemacht: 80 bis 100 Jugendliche seien massiv gegen Polizisten vorgegangen, als sie zwei Tatverdächtige festnehmen wollten, hieß es. In Wirklichkeit war es ganz anders.

Ganz anders nicht, aber differenzierter. Natürlich ist es ein großer Unterschied, ob sich eine Menschenmenge versammelt, um Polizisten, die zwei Zwölfjährige türkischer Herkunft festnehmen, tätlich anzugreifen. Oder ob die 100 Versammelten lediglich die Akklamationskulisse für einige wenige Personen bilden, die versuchen, die Festgenommenen zu befreien. Das ändert aber nichts daran, dass die Beamten vor Ort die Situation als so bedrohlich empfunden haben, dass sie Unterstützung angefordert haben.

Was für eine Lehre ziehen Sie daraus für die Pressearbeit der Polizei?

In einer Polizeibehörde wird es immer wieder Situationen geben, wo man hinterher sagt: Das ist nicht optimal gelaufen. Das haben wir auch im Fall des Wrangelkiezes eingeräumt. Wir versuchen, daraus zu lernen. Pressearbeit ist immer ein Balanceakt. Die Medien erwarten zu Recht, dass wir sofort über Vorkommnisse berichten. Das geht nur auf Basis erster Informationen durch die Einsatzkräfte vor Ort, die unter dem Eindruck des Geschehens emotional geprägt sein können. Später stellt sich der Sachverhalt oft differenzierter dar. Wir bemühen uns, schnell, sachlich und nüchtern zu berichten, keine Tatarenmeldungen zu verbreiten, aber auch nichts zu beschönigen.

Nach dem Vorfall haben Polizisten mit jungen gebürtigen Türken und Vertretern des Bezirksamts am runden Tisch ein konstruktives Miteinander im Kiez vereinbart. Ist das für die Polizei eine neue Form interkultureller Zusammenarbeit?

Nein. Im Rollbergkiez, der aus meiner Sicht Modellcharakter hat, was eine hervorragende Präventionsarbeit angeht, hat es auch schon Gespräche über einzelne Polizeieinsätze gegeben. Die Medien haben nur nicht so groß darüber berichtet. Ich erwarte auch an jeder anderen Stelle diese Gesprächsbereitschaft von meinen Mitarbeitern.

Im Wrangelkiez haben junge Männer, die selbst Gewalttäter waren, angeboten, Verantwortung für die Jugendlichen zu übernehmen.

In der Thermometersiedlung in Lichterfelde ist das bereits Praxis. In dem dortigen Antigewaltprojekt arbeiten junge Männer, die früher straffällig geworden sind, sehr intensiv mit. Wo immer eine Möglichkeit besteht, junge Männer in die Präventionsarbeit einzubeziehen, sollte man das nutzen. Was wir nicht akzeptieren können, ist, wenn ethnische Gruppen versuchen, die Dinge allein unter sich zu regeln. Nach dem Motto: Wir brauchen die Polizei nicht, wenn es zu Straftaten und Gewalt kommt.

Nimmt diese Tendenz zu?

Sie nimmt eher ab. Erinnern Sie sich an die Diskussionen, die vor ein paar Jahren über den Soldiner Kiez im Wedding geführt worden sind. Damals hieß es, Friedensrichter der dort wohnenden Ethnien würden alles regeln, die Polizei erfahre nichts mehr. Wir erfahren bestimmt nicht alles, wenn man zum Bespiel an die Straftaten von Angehörigen einiger libanesischen Großfamilien denkt. Es gibt aber auch in der deutschen Gesellschaft Strukturen, in denen Dinge passieren, von denen die Polizei keine Kenntnis erlangt.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich Einwanderer so oft von der Polizei diskriminiert fühlen?

Das lässt sich nicht verallgemeinern. Ich kenne Menschen, die sagen, es gibt in Berlin keine Behörde, die so viel für die Integration tut, die sich so um eine Zusammenarbeit mit den Menschen in den Kiezen bemüht wie die Polizei. Es gibt auch viele Deutsche, die meinen, sie seien immer zuerst dran, wenn die Polizei einschreitet. Das sind subjektive Wahrnehmungen.

Das klingt, als ob Sie die Rassismusvorwürfe eigentlich nicht ernst nehmen, auch wenn Sie jedes Mal ein Ermittlungsverfahren einleiten lassen.

Nein. Meine Schlussfolgerung lautet: Unsere Präventionsarbeit in den Kiezen muss so gut werden, dass die Leute dieses subjektive Verfolgungsgefühl nicht mehr haben.

Was wollen Sie tun?

Das ist in der Diskussion um die Wrangelstraße deutlich geworden: Wir ziehen uns nicht aus den Kiezen zurück. Im Gegenteil. Wir müssen dafür sorgen, dass dort die Polizei – wie früher mit Kontaktbereichsbeamten – wieder täglich auf der Straße ist und mit den Anwohnern und Gewerbetreibenden spricht. Beim gemeinsamen Tee oder Kaffee wird es leichter fallen, solche Fehleinschätzungen auszuräumen.

Dann dürfen diese Beamten aber nicht ständig wechseln.

Mein Ziel ist es deshalb, dass die Dienstgruppenbeamten der Abschnitte ähnliche Verantwortung übernehmen wie der Kontaktbereichsbeamte, kurz: Kob, sie früher hatte. Zurzeit ist es so, dass die 30 bis 45 Mitarbeiter der Dienstgruppen ihren Regeldienst machen, Einsätze fahren und Vorgänge bearbeiten und mal hier, mal dort Streife gehen. Meine Vorstellung ist, dem einzelnen Mitarbeiter eine persönliche Zuständigkeit für bestimmte Straßenzüge zuzuweisen. Dort soll er möglichst oft, wenn Freiraum ist, zu Fuß unterwegs sein.

Seit Ende der 90er muss die Schutzpolizei mehr Aufgaben in der Kriminalitätsbekämpfung übernehmen, die Reform ist als „Berliner Modell“ bekannt. Ist Ihre Idee ein neues Modell?

Das ist eine Weiterentwicklung. Mit der Einführung des Berliner Modells ist die Idee des Kobs ein bisschen verloren gegangen, auch weil wir heute weniger Personal haben. Der alte Kob musste keine Vorgänge bearbeiten, keine Regeldienste auf dem Einsatzwagen fahren. Seine Aufgabe war, in einem überschaubaren Bereich Kontakte zu knüpfen und Gespräche zu führen. Er musste allerdings auch Strafzettel wegen Falschparkens verteilen. Ich plädiere schon länger dafür, die Kob-Idee mit unseren heute begrenzten Möglichkeiten wieder zu beleben. Welche Beamten mit dieser Aufgabe betraut und wo Schwerpunkte gesetzt werden, sollten die Abschnitte in Eigenregie entscheiden.

Die Koalition hat das Ziel, den Anteil der Polizisten nichtdeutscher Herkunft auf 10 Prozent zu erhöhen. Wie viele Beamte sind es im Moment?

Es gibt keine genaue Erfassung. Wir schätzen, dass wir 150 Mitarbeiter anderer Ethnien haben. Bei 17.000 Berliner Polizisten ist das fast ein Promillewert. Angesichts der großen Zahl von Migranten, die in Berlin leben, sind es viel zu wenig.

Können Polizisten, die gebürtige Türken oder Libanesen sind, bei den eigenen Landsleuten besser deeskalieren als deutsche?

Ich will sie nicht, weil sie besser deeskalieren können. Es ist auch denkbar, dass sie in der eigenen Ethnie schlechtere Chancen haben, Probleme zu lösen. Die Sprachkenntnisse können natürlich nützlich sein. Ich möchte sie aber in erster Linie als Vertrauensbeweis gegenüber den Migranten in der Stadt. Sie sollen sich in einer der wichtigsten Behörden des deutschen Staates repräsentiert fühlen.