HUMBOLDT-UNI : Furcht und Terror
Der Raum 2097 in der Humboldt-Universität ist zur Vorlesung „Gewalt – Faszination und Ordnung“ gut gefüllt. Zwei 80-jährige Männer sitzen in der zweiten Reihe, der eine sagt: „Die Mütze, die de hast, sieht ooch aus, als ob de ausm Sowjetparadies kommst. Mein Sohn, äh, Enkel hat ooch son Scheißding.“ Eine bärtige Dame von Mitte 70 betritt den Raum, der alte Herr: „Die weeß nich, wo se hinkommt, nich wer spricht und worüber es geht.“ Ein Mann von Anfang 40 am Rand der ersten Reihe lässt die Dame durch.
„Aber besser, als wennse in die Kneipe geht. Datsche, hab ick mir immer beschwert: Der Berlina hat ne Laube. Abrassimow, Bungaloff, Lunikow. Heute gibt’s keine Witze mehr. Falin, der is ja über 80. Nee, nee, nee. Der lebt in Hamburg, ist nich zurückgekehrt, der liebe Führer. Budjonny? Weeßte ja, dass Charlottenburg Charlottengrad jenannt wurde.“ Der Referent Jörg Boberowski erscheint, er trägt einen schwarzen Rollkragenpullover, auch sein Jackett und seine Hose sind schwarz.
„Is ja alt jewordn, der Boberowski,“ erklärt der Alte seinem Nachbarn, „jeht ja schnell mit dem.“ Werner Röcke leitet den Vortrag ein: „Furcht und Terror, ich darf Sie bitten!“ Boberowski hält seinen Vortrag, nur zehn Personen in Stalins Umgebung blieben am Leben, die hatten sich richtig verhalten, Bruder oder Ehefrau geopfert. So konnten alle sehen: Wenn ich mich richtig verhalte, kann ich überleben.
„Wäre Russland dieses Schicksal mit einem anderen Diktator erspart geblieben?“ Die alten Herren rufen: „Trotzki!“ Tatsächlich hielten Bucharin und andere die Raubökonomie für einen Fehler.
Der Mann vor den alten Herren begrüßt eine Frau mit Umarmung und Kuss. „Küssen Sie hier alle Frauen? Dann müssen Se die ooch küssen!“ Der alte Mann weist auf die bärtige Frau, die in der Mitte Platz genommen hat.
FALKO HENNIG