Käseschachteln für Kreativität

In den Josettihöfen an der Rungestraße ließ der jüdische Fabrikant Oskar Josetti einst die Tabakmarke „Juno“ produzieren, heute handeln in den Parzellen Filmemacher, Architekten und Grafiker mit Ideen

VON NINA APIN

Der Eingangsbereich der Josettihöfe an der Rungestraße in Mitte erinnert an die Ausstattung der 80er-Jahre Amtsstubensatire „Büro Büro“: Schwarze Besuchercouch, funktionale Leuchten an niedrigen Decken, an der Wand ein großes Belegungsschild mit sämtlichen Firmen. Hinter getönten Scheiben faucht eine Kaffeemaschine, zwei Mitarbeiter beugen sich über Monitore.

Carmen Reitz, die lässig auf einem der knautschigen Barhocker im Flur sitzt, passt nicht recht in die Büroatmosphäre. Sie hat wallendes rotes Haar, trägt Jeans und eine Weste über dem Rollkragenpullover und begrüßt alle Mieter, die morgens auf dem Weg zur Kaffeemaschine oder zum Briefkasten an ihr vorbeikommen, mit Vornamen. Seit 2005 ist Reitz so etwas wie eine Herbergsmutter für insgesamt 230 Mieter – Filmproduzenten, Grafiker, Modemacher, Architekten oder Rechtsanwälte. Eine Rolle, die die gelernte Kauffrau für Grundstücks- und Wohnungswirtschaft genauso zu lieben scheint wie das Haus, von dem sie wie eine Verliebte schwärmt.

2003 suchte die Kulturmanagerin und Mitbegründerin des Clubs Maria am Ostbahnhof ein leer stehendes Haus, um ein Zentrum für Musiker aufzubauen. Ein Makler machte sie auf die ehemalige Zigarettenfabrik an der Jannowitzbrücke aufmerksam. Von 1923 bis 1960 wurden dort die filterlosen „Juno“ produziert, zu späteren DDR-Zeiten dann Robotron-Haushaltsgeräte. Ab 1991 zog das Landesamt für offene Vermögensfragen ein, das dem Gebäudekomplex seine lieblose Amtsstubenausstattung bescherte. „Die haben das Haus vergewaltigt“, schnaubt Reitz und klopft an eine der billigen Rigipswände, die aus den 1905 erbauten großzügigen Fabrikräumen funktionale Käseschachteln machen. Begeistert war sie trotzdem von dem wabenförmigen Riesen mit seinen drei Hinterhöfen und insgesamt 13.000 Quadratmeter Nutzfläche.

„Ich wusste sofort: Dieses Haus brauche ich.“ Reitz gelang es, die Eigentümerin – eine Bank aus Essen – mit ihrer Begeisterung anzustecken. Die Bankleute setzten sie als bezahlte Verwalterin ein, gaben ihr einen Mitarbeiter zur Seite – und ließen sie einfach machen. Der Mut der Bank zahlte sich aus. Im August 2004 zogen die ersten Mieter ein, heute sind rund 75 Prozent der Fläche an Ein-Mann-Unternehmen und Kleinfirmen aus dem Kreativbereich vermietet. Reitz nennt sie „moderne Großstadtnomaden“.

Musiker sind fast keine darunter, wegen der schlechten Schalldämmung. Für alle anderen Mieter ist die billige Renovierung des Hauses aber ein Glücksfall. Durch die Amtsvergangenheit sind die Fabriketagen in kleine Einheiten von 15 bis 50 Quadratmetern parzelliert und ohne größere Umbauten bürotauglich. Und erschwinglich: Ein 20-Quadratmeter-Büro gibt es schon für 190 Euro warm – inklusive Frühstückskaffee, Postannahmeservice und anderer Betreuungsleistungen. „Wir sind gleichzeitig schützender Kokon und ein Hort der Freiheit“, umschreibt Reitz die Rolle der Hausverwaltung.

Die unsichtbaren Mieter

Dass sie ihren Mietern nicht mehr Sicherheit als ein- bis dreimonatige Mietverträge bieten kann, bedauert sie: Bis heute betrachtet die Eigentümerin die Josettihöfe als Zwischennutzung. Doch Reitz weiß auch, dass Flüchtigkeit für viele ihrer jungen Mieter Teil ihres Lebensstils ist. Wer es repräsentativ will, zieht in die schick sanierte Backfabrik oder die Kulturbrauerei in Prenzlauer Berg. Individualisten nutzen coole Locations wie die ehemalige DDR-Modefabrik an der Greifswalder Straße.

In den Josettihöfen zählen Äußerlichkeiten wenig. Hier sind kleine Preise und flexible Konditionen gefragt. „Meine Mieter gibt es auf dem Berliner Immobilienmarkt eigentlich gar nicht“, sagt Reitz.

Manche sind auch innerhalb der Josettihöfe unsichtbar, wie das Performancekollektiv SheShePop. Auf dem großen Firmenschild im Foyer taucht die Gruppe nicht auf, sie residiert hinter der unauffälligen Tür R 423 im vierten Stock des Vorderhauses. Die mit Schreibtischen und Bücherregal vollgestopften 24 Quadratmeter sehen noch immer wie ein Behördenzimmer aus, nur das knallrote Stoffmonster „Gordo“ auf dem Boden erinnert an Kunst.

Die von Projekt zu Projekt lebenden Künstlerinnen schätzen die Josettihöfe als Ruhepunkt und Anlaufstation zwischen ihren Proben und Auftritten. „Du kannst hier beides haben: eine Gemeinschaft oder Ruhe zum Arbeiten“, sagt Gruppenmitglied Johanna Freiburg. SheShePop finden die Nähe von Steuerberatern und Kostümbildnerinnen praktisch und nutzen die Hausgenossen schon mal als Testpublikum für ihre Auftritte. Sonst bleibt es hinter der Tür 423 ruhig.

Das Architektenduo „Hütten und Paläste“ in Raum 433 schwärmt dagegen von der Gemeinschaft im Haus. „Alle Mieter sind an einem ähnlichen Punkt wie wir“, sagt Nanni Grau, „zwei Jahre nach der Selbstständigkeit und kurz vor dem Durchbruch.“ Die Jungarchitekten, die sich auf Gartenlauben und andere Kleinformen spezialisiert haben, schätzen den Schwatz in der Kaffeeküche auf dem Flur genauso wie das unproblematische Rekrutieren von Webdesignern oder Zeichnern für Projekte. „Hier ist es wie an der Uni, nur professioneller“, findet Frank Schönert.

Auch architektonisch erinnern die langen weißen Flure mit den nummerierten Türen und Aufzügen an ein Universitätsgebäude. Erst im Freien, in einem der großzügigen Innenhöfe, wirkt die Eleganz der Fassaden aus glasierten Ziegeln, die August Endell, der Architekt der Hackeschen Höfe, einst errichtete.

Die engen Schachteln

Die ersten Mieter fühlten sich noch frei, die vom Amt eingebauten engen Schachtelräume zu demolieren. Später untersagte der Eigentümer das Herausreißen von Wänden oder das Freilegen der hohen Originaldecken. Luftige und elegante Räume wie das Studio der Filmproduktionsfirma Apartment Nine sind darum die Ausnahme in den Josettihöfen. Firmengründer Christian Büttner hat edel aussehendes Laminat verlegt, auf einem beleuchteten Podest thronen Schnittplätze und Tonkabine. Büttners beste Kunden kommen aus dem Haus, er übernimmt Schnitt und Postproduktion für Werbe- und Dokumentarfilme und vermietet Studiozeit. Carmen Reitz ist ein wichtiger Anlaufpunkt für solche beruflichen Querverbindungen. Wer eine Website oder Beratung in Rechtsfragen braucht, fragt die Gründerin, die nie den Überblick über ihre Mieter verliert. „Ich kenne eigentlich jeden, der hier durch die Tür kommt“, sagt sie zufrieden.

Nur einmal, im vergangenen Jahr, kannte Carmen Reitz einen Besucher nicht. Hochbetagt war er und hatte einen jüngeren Mann dabei, seinen Sohn. Es war der Enkel des jüdischen Zigarettenfabrikanten Oskar Josetti, der von 1923 bis 1939 in der Rungestraße Zigaretten produzieren ließ.

Der 82-jährige Nachfahre wollte das Lebenswerk seines Großvaters besichtigen, den er nie richtig kennengelernt hatte: Während Oskar Josetti vermutlich bereits 1936 in die USA emigrierte, verschiffte die Familie den Enkel erst 1939 in einer panischen Aktion nach Israel – 16-jährig und ohne Begleitung. Seine Familie sollte der Junge, der als Heinz Josetti Berlin verließ und sich in Israel den hebräischen Namen Elchanan Narkis gab, nie wieder sehen. Alle in Deutschland verbliebenen Familienmitglieder wurden in Konzentrationslagern umgebracht.

Carmen Reitz bat den Gast um ein längeres Gespräch, sie erhoffte sich Hinweise zur Historie der Josettihöfe, die bis heute in weiten Teilen undokumentiert ist. 1904/1905 wurde das Gebäude als Holzlager und Gewerbehof errichtet, erst 1923 eröffnete Josettis Zigarettenfabrik. Ob der Betrieb zwangsarisiert wurde, oder ob Josetti freiwillig verkaufte, wusste auch der Enkel nicht. Vermutlich gab Oskar Josetti die Fabrik 1936 auf, im selben Jahr, als sein 14-jähriger Enkel sich bei den Olympischen Spielen in Berlin noch als Teil der deutschen Leichtathletikhoffnung fühlen durfte. Danach übernahmen die Nazis die Produktion unter gleichem Namen. In der DDR wurde der Betrieb dann unter dem Namen VEB Garbaty in Volkseigentum überführt und 1960 mit dem VEB Josetti zur Berliner Zigarettenfabrik“ zusammengelegt.

Die Spur der Geschichte

Für den alten Mann, der zum ersten Mal seit seiner Flucht wieder in Berlin war, wurde das Reden über alte Zeiten irgendwann zu viel. „Er konnte nicht mehr sprechen, am Schluss heulten wir alle drei“, erinnert sich Carmen Reitz. Nach dem Besuch begann sie, Nachforschungen über die Zigarettenfabrik anzustellen. Bis 1960 wurden an der Rungestraße weiterhin Zigaretten der Marken „Juno“, „Vera“ und „Eros“ mit Filmstar-Sammelbildern produziert. Die einzig verbliebene Sorte „Juno“ führt heute die Firma Reemtsma im Sortiment, doch bislang wollte man sich dort nicht über die näheren Umstände äußern.

Irgendwann will Carmen Reitz die Geschichte des Gebäudes weiter ergründen. „Drüben müssten sie mehr wissen“, sie nickt hinüber zum Amt für offene Vermögensfragen, das jetzt auf der anderen Straßenseite residiert.

Einstweilen hält sie die wenigen verbliebenen Spuren der Vergangenheit in Ehren, wie die bronzene Gedenktafel für im Ersten Weltkrieg gefallene Fabrikmitarbeiter am Empfang. Und kümmert sich um die Zukunft: Im dritten Hinterhof direkt an der Spree ist noch viel Platz für Kreative. Dort sind die Räume größer geschnitten und renovierungsbedürftig – nichts für arme Großstadtnomaden.

Dass sich auch finanzkräftige Mieter mit sicherer Zukunftsplanung in den Josettihöfen wohlfühlen werden, daran zweifelt Carmen Reitz nicht. Höchstens daran, dass die Zeit der Zwischennutzung mit Modellcharakter irgendwann abläuft. „Dann suche ich eben ein anderes Haus und nehme meine Mieter mit“, sagt sie. Leere Drohung ist das keine. Neben den Josettihöfen hat Reitz bereits eine leer stehende Fabrik in Charlottenburg mit Kreativmietern gefüllt – auf Bitte des Eigentümers.