Berliner Platte : Popmusik: watteweich und international kompatibel
Die größte Qualität von Virginia Jetzt! war schon immer, dass ihnen nichts, aber auch gar nichts peinlich war. Der Mut, der dazu gehörte, zu harmlosen Melodien noch das belangloseste Gefühlchen vor dem Publikum auszubreiten, war zweifellos bewundernswert. Außerdem wussten sie das selbst am besten. Und wissen das heute sogar so gut, dass sie diese hervorstechende Eigenschaft auf ihrem neuen Album „Land unter“ im nicht umsonst „Singen und singen“ betitelten Song in eine griffige Formulierung packen („Aus Geschichten werden Lieder, wenn mein Herz davon spricht“) und anschließend auch noch fröhlich weiter ausbauen. Da wird Verknalltsein mit einer zeitgeschichtlichen Dimension versehen („Berlin ist vereint/ Jetzt will ich sehen, dass deine Mauern fallen“), Poesiealbumpoesie verfasst („Mein bester Freund ist in Australien, da scheint immerzu die Sonne/ Doch im Herzen, das schreibt er nicht, ist er einsam so wie ich“) und natürlich ganz klassisch das Tagebuch vertont („Es geht mir gut, nehm ich mal an, ich kann’s ja nicht beweisen/ Der Schmerz ist da, doch er versucht noch nicht, mich zu zerreißen“).
Musikalisch wird das wieder mal watteweich umgesetzt, mit tröpfelndem Piano und Streichern, selbstzufrieden dängelnden Gitarren und einem Sänger Nino Skrotzki, der immer noch singt wie ein Butterkaramell. Das ist alles viel zu schön, um wahr zu sein – das muss man allerdings erst mal können. Aber man will, soll und darf Virginia Jetzt! auch gar nicht böse sein. Denn so lieb zu sein, noch lieber als Juli und Wir sind Helden miteinander multipliziert, das ist dann doch eine Leistung und womöglich ja auch schon wieder subversiv. Vielleicht ist es ja auch ein versteckter Hinweis, wenn Skrotzki singt: „Wenn wir singen und singen, dann geht es gar nicht darum, dass irgendwer uns verstehn muss“. In drei bis vier Jahrzehnten wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass man „Land unter“ nur hätte rückwärts in dreifacher Geschwindigkeit hätte abspielen müssen, um satanistische Botschaften zu hören.
Auch nicht gerade bösartig sind Naomi. Die beiden ehemaligen Hamburger Indie-Mucker Bernd Lechler und Nico Tobias zogen nach Berlin, taten sich zum Duo zusammen, fanden die Faszination am minutenlang groovenden Track und entdeckten den Computer. Dessen Allmacht wird auf ihrem dritten Album „Aquarium“ nur ein wenig eingeschränkt, wenn hin und wieder Gitarren oder Piano erklingen, aber grundsätzlich ist der digitale Kollege diesmal wärmer programmiert und muss schneller auf den Punkt kommen. Es knuspert und knispert zwar, aber Lechler und Tobias versuchen sich an nachgerade klassischem Songwriting. Das Ergebnis hätte früher Datapop geheißen, als The Notwist dafür den Standard setzten, heute ist es wohl einfach Popmusik. Und so international kompatibel, dass wohl noch einige Beiträge für Compilations zu den 70 dazu kommen, die Naomi bereits geliefert haben sollen. Auch auf die Bühne geht man nun nicht mehr mit Laptop, sondern mit Band.
THOMAS WINKLER