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Archiv-Artikel

Comicwesen aus einer anderen Welt

Frauen mit Plastiktüten statt Schuhen an den Füßen, kleine Kinder, die selbstvergessen Kreidehäuschen malen und andere Menschen, die leicht übersehen werden: Der Bremer Künstler Armsrock zeichnet sie auf Papier und plakatiert mit seinen lebensgroßen Figuren die Stadt

von Eiken Bruhn

Selbstvergessen hockt das Mädchen hinter dem Tor, in der Hand ein Stück Kreide. „Armsrock Chalk Kids“ steht auf ihrem T-Shirt, die Haare hängen ihr ins Gesicht. Wenn man genau hinsieht und sich hinter den Zaun beugt, sieht man, dass sie an der Backsteinmauer ein kleines weißes Haus gezeichnet hat. Es ist ein Zeichen aus einer anderen Welt, das sie damit hinterlässt, denn das Mädchen entstammt einem Paralleluniversum. Sie ist ein Comicwesen, eine auf Papier gezeichnete lebensgroße Figur, wie aus einem riesigen Comic herausgeschnitten und an die Wand geklebt. Etwa 200 dieser Wesen sind bisher in unserer Welt aufgetaucht: In Bilbao, New York, Kopenhagen und seit drei Jahren vor allem in Bremen.

Das ist kein Zufall, denn ihr Erschaffer lebt hier, ein 22-jähriger Däne, der an der Kunsthochschule studiert und nur unter seinem Künstlernamen „Armsrock“ in der Presse genannt werden will. Mit Wunsch nach Anonymität hat das weniger zu tun als damit, dass er eine eigene Schublade für seine Identität als Künstler haben möchte, wie er es nennt. „Früher hatte ich noch mehr Namen, aber da bin ich irgendwann durcheinandergekommen.“ Armsrock sieht keinen Grund, seine Figuren heimlich, etwa in der Dunkelheit, an die Wände zu kleben. „Ich mache nichts kaputt“, sagt er, „eher im Gegenteil, ich sehe es als etwas, was ich der Stadt schenke.“ Um niemand zu stören, vermeidet er es Türen und Pforten zu plakatieren. „Das kann sehr penetrant sein, wenn man immer dadurch muss.“ Die Frage, ob sein Tun illegal ist, beschäftigt ihn nicht. „Es ist doch auch meine Stadt“, stellt er fest. „Wenn es in Ordnung geht, dass Menschen auf der Straße leben müssen, sehe ich keinen Grund, warum das, was ich tue, nicht okay sein soll.“ Bisher hat ihn noch nie jemand behelligt, wenn er am frühen Morgen mit Kleister unterwegs war. Ganz im Gegenteil. Oft würden ihn Passanten anlächeln oder mit ihm über seine Kunst sprechen. Die meisten seiner Werke sind auch Monate später noch intakt, einige sind halb heruntergerissen, aber es sieht nicht nach einem erbosten Hausbesitzer aus, sondern danach, als wäre jemandem langweilig gewesen.

Doch die lange Haltbarkeit seiner Werke hat weniger mit der Liebe der Bremer zur Straßenkunst an sich zu tun, sondern damit, dass Armsrock fast ausschließlich im Viertel plakatiert, wo er auch lebt. Hier hängen überall Plakate – Konzertankündigungen, „Nazis raus“-Sticker und zunehmend Werke anderer Straßenkünstler. Die gesprayten Comic-Hunde oder die Gedichte von Heine und Morgenstern auf DinA4-Zetteln. Die Bewohner sind es gewohnt, dass Tag und Nacht Menschen auf ihren Straßen unterwegs sind – warum nicht auch die Comicwesen? Die schreien wenigstens nicht im Suff oder Drogenrausch oder sitzen stundenlang im Café und trinken einen Latte Macchiato nach dem anderen – während andere Leute arbeiten.

Wenn Armsrocks Figuren lebendig wären, sie hätten zwar viel Zeit, aber kein Geld für Café-Aufenthalte. Viele von sind entweder zu jung für solche Späße, wie das Kreide-Mädchen oder ein Junge im Schneeanzug mit einem Stoffhasen im Arm oder sie haben andere Sorgen wie die Frau, die keine Schuhe an ihren Füßen trägt, sondern Plastiktüten. Armsrock hat ein Herz für Menschen wie sie, er will ihnen Aufmerksamkeit verschaffen, sie sichtbar machen, wie er sagt. Und: „In der Stadt müssen wir so vieles ausschalten, wollen so vieles nicht sehen.“

Dabei kann man auch seine Figuren übersehen, wenn man möchte, sie drängen sich nicht auf, stehen oft abseits, am Rande des Geschehens. Das gilt auch für die Figuren, die nicht auf Papier gezeichnet, sondern direkt auf die Wand gemalt sind, wie in einem Skatershop im Viertel oder seit kurzem im Moks-Theater. Letzteres sind bezahlte Auftragsarbeiten. Mit wenigen Ausnahmen haben die Menschen aus Farbe oder Kreide den Blick vom Betrachter abgewandt. Viele sehen traurig aus, nicht auf eine depressive, sondern eine melancholische Weise, wirken in sich gekehrt. Als wären sie in ihrer eigenen kleinen Welt gefangen und darin ganz alleine – selbst wenn sie zu dritt sind wie die fremdländisch aussehende Familie, die wie von einem fremden Stern auf der bemalten Hauswand am Freizi Friesenstraße gelandet zu sein scheint. Armsrock hat die drei mal irgendwo gesehen und sie aus der Erinnerung gezeichnet, so wie die meisten seiner Figuren. Sein Problem sei mittlerweile, dass er nicht mehr durch Städte laufen könnte, ohne überall Geschichten und Figuren zu sehen, sagt Armrock. „Es gibt immerhin sechs Milliarden…“

Armsrock ist einer von ihnen. Wäre er Vorbild für eine seiner Figuren, sie trüge kaputte Turnschuhe, eine schwarze Basecap und darüber einen schwarzen Kapuzenpulli, in beiden Nasenflügeln einen Ring. Wahrscheinlich wäre sie von hinten zu sehen, wie sie Plakate aufhängt, wie der mittlerweile abgerissene Sprayer in der Blumenstraße. Das schmächtige Wesen würde den Betrachter über die Schulter direkt angucken, mit einem freundlichen, etwas schüchternen Lächeln. Irgendwie wirkt es traurig.