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Archiv-Artikel

Schwert der Barmherzigkeit

Seine Mangas aus den 70er-Jahren waren Vorbilder für das Gemetzel in „Kill Bill“. Jetzt liegen Kazuo Koikes „Lady Snowblood“ und „Lone Wolf and Cub“ endlich auf Deutsch vor

Ein Schatten fällt auf das Gesicht von Lady Snowblood. Nackt an einen Steinquader gefesselt, beobachtet sie mit schreckerfülltem Blick das Ding, das sich ihr nähert: Es ist der gewaltige Penis des riesenhaften Genjirou Katsuage. Diese Gelegenheit will er sich nicht entgehen lassen. Zeit seines Lebens wurde er von den anderen Menschen in seiner Umgebung als Monstrum behandelt, die Frauen verschmähten ihn, nun endlich kann er sich sein Verlangen erfüllen. Doch wie so oft findet die schöne Killerin Yuki einen Weg aus dieser Situation äußerster Erniedrigung. Kurz darauf liegt Genjirou sterbend am Boden und darf sich, ein letzter Akt der Gnade, zwischen Yukis Schenkel ergießen.

Die Mischung aus Kaltblütigkeit, dem Ausspielen ihrer sexuellen Reize und zuletzt der Barmherzigkeit, die Yuki bei der Tötung Genjirous an den Tag legt, ist charakteristisch für Kazuo Koikes 1.000 Seiten umfassendes Manga-Meisterwerk „Lady Snowblood“. In Japan erschien die Fortsetzungsgeschichte Anfang der 70er-Jahre in Serienform, nun liegt sie endlich komplett auch auf Deutsch vor. Die Kaltblütigkeit wurde der Kämpferin schon in die Wiege gelegt: Während der Umwälzungen der Meiji-Periode um 1890, als sich Japan dem Westen öffnete und viele Traditionen, auch Machtverhältnisse ins Wanken gerieten, wird Yuki aus dem einzigen Grund geboren, dass sie Rache nehmen kann an den Vergewaltigern ihrer Mutter.

Die Barmherzigkeit hingegen entspringt der bitteren Erfahrung damit, was es heißt, in einer sich wandelnden Welt zu den Schwachen und Ausgestoßenen zu gehören. Und über die expliziten Sexszenen schreibt Georg Seeßlen im Vorwort: „Natürlich ist es auch die Geschichte einer Frau, die in dieser Spannung zwischen der traditionellen Geschlechterrolle und der Freiheit noch einmal zum Spiegel ihrer Gesellschaft und ihrer Geschichte wird. Denn je mehr sich Lady Snowblood in ihrem Rachefeldzug zu einer übrigens auch sexuell vollkommen autonomen Frau entwickelt, desto mehr stellt sie sich gleichzeitig in den Dienst der Tradition.“

In dem Wissen um die Ausweglosigkeit der Situation ist Lady Snowblood eng verwandt mit Ogami Itto, der Figur im Zentrum von Koikes zweitem Hauptwerk „Lone Wolf and Cub“. Ehemals Scharfrichter des Shoguns, hat der tragische Held durch eine Verschwörung Frau und Stellung am Hof verloren. Nun zieht er Rache suchend als Auftragsmörder mit seinem Sohn Daigoro durch das Japan der Edo-Zeit. Beide Mangas sind durch ihre episodische Struktur gekennzeichnet – was immer neue blutige Höhepunkte mit sich bringt, in denen die Hauptfiguren ihre meisterhafte Schwertkunst unter Beweis stellen können. Zum anderen erlaubt diese Erzählweise den Auftritt einer Vielzahl von ausgebeuteten Bauern, geknechteten Prostituierten und verarmten Samurais, deren Geschichten ein düsteres Panorama ihrer Zeit liefern.

Vor allem dank der zu Beginn der 70er-Jahre entstandenen Verfilmungen beider Werke, deren Revenge-Plots und innovative Kampfsequenzen großen Einfluss auf Tarantinos „Kill Bill“ hatten, ist Koike als Autor spektakulärer Sex- und Gewaltszenen bekannt, die dann von den Zeichnern Kazuo Kamimura und Goseki Kojima entsprechend detailfreudig in Szene gesetzt wurden. Dabei wird oft übersehen, dass diese Exploitation-Elemente sich vor einem präzise gezeichneten historischen Hintergrund abspielen und ihren festen Platz in der Nachfolge der „Gekiga“, der dramatischen Bilder haben. Zurück geht dieser Begriff auf den Comicautor Yoshihiro Tatsumi, der so seine Mitte der 50er-Jahre veröffentlichten sozialkritischen Comics nannte, die den Verlierern der japanischen Gesellschaft gewidmet waren und mit den eskapistischen Mangas seiner Zeitgenossen nichts gemein hatten.

Koikes umfangreiches Oeuvre fügt sich ganz in die Nachfolge Tatsumis: 1977 gründete er mit der Gekiga sonjuku sogar eine Schule, die den Nachwuchs in der realistischen Comictradition fördern sollte. In dieser Ahnenreihe stehen auch die historischen Epen „Lady Snowblood“ und „Lone Wolf“, da sie wie die besten Werke Tatsumis von den Verlierern handeln, die der ökonomische und kulturelle Wandel mit sich bringt. Die Rachegeschichten entpuppen sich letztlich als Vehikel einer aggressiv ausagierten Sozialkritik. Dazu passen die scharf konturierten Panels, in denen die Schwertschläge zugleich für die Dynamik der einzelnen Bilder sorgen. Koike wiederum findet für die Gerechtigkeitssuche der Einzelnen eine ebenso überzeugende Dramaturgie wie für die Korruption und Ungerechtigkeit des gesellschaftlichen Systems, aus dem die Helden herausgefallen sind. VOLKER HUMMEL

Kazuo Koike/Kazuo Kamimura: „Lady Snowblood“. 2 Bände. Carlsen Verlag 2006, jeweils 16,90 EuroKazuo Koike/Goseki Kojima: „Lone Wolf and Cub“. Bisher 19 Bände. Panini Verlag, jeweils 11 EuroDie Verfilmungen von „Lady Snowblood“ und „Lone Wolf and Cub“ sind als DVDs in der Reihe „Nippon Classics“ bei Rapid Eye Movies erschienen