: Wenn aus Nachbarn Feinde werden
AUS SULEIMANIA INGA ROGG
Es sollte ein ganz normaler Verwandtschaftsbesuch zum Ende des Fastenmonats Ramadan im Oktober werden. Bei der Familie von Mohammed Kerim Mohammed hatten sich die Tante und ihr Mann angekündigt. Nur noch wenige Meter trennte das Paar vom Haus der Mohammeds, als in der kleinen Seitenstraße von Bakuba plötzlich Schüsse ertönten. Männer in einem schwarzen Opel hätten den Eheleuten an der Straßenecke aufgelauert, sagt Mohammed. Das Paar starb im Kugelhagel. Von den Mördern fehlt bis heute jede Spur.
Nach dem brutalen Mord an der Tante verlor Mohammed den letzten Funken Hoffnung, dass er im Dschungel der Konflikte von Bakuba überleben könnte. Er floh nach Suleimania, wo er sich heute mit Gelegenheitsjobs durchschlägt. Zusammen mit Dutzenden von Tagelöhnern lungert Mohammed vor der Großen Moschee im Zentrum der kurdischen Provinzhaupstadt. Es sind abgerissene Gestalten in zerschlissenen Hosen und löchrigen Hemden, die darauf warten, für Stunden oder Tage als Lastenträger, Anstreicher oder Arbeiter auf einer der zahlreichen Baustellen der Stadt angeheuert zu werden. Die meisten sind wie Mohammed Araber. „Arabisches Viertel“ nennen die Einheimischen mittlerweile den Platz vor der Großen Moschee, der ihnen als Job- und Informationsbörse dient. Fast jeder kann eine Geschichte beisteuern, die vom allmählichen Auseinanderbrechen der ethnisch und religiös gemischten Städte und Regionen wie Bagdad oder Bakuba erzählt.
Wir sollen ihn Hussein nennen, sagt ein 25-Jähriger mit einer dicken blauen Wollmütze auf dem Kopf, unter der die Locken seines halblangen braunen Haars hervorschauen. Hussein ist aus Dora geflüchtet, einem Stadtteil im Süden von Bagdad, der bis vor ein paar Monaten noch von Schiiten, Sunniten, Christen und der Minderheit der Mandäer bewohnt war. Im Spätsommer hatten amerikanische Truppen in Dora eine Großrazzia durchgeführt, um den sunnitischen Untergrundgruppen in dem Quartier beizukommen, die seit Monaten gegen die Andersgläubigen zu Felde zogen. Als die Soldaten einrückten, hatten die Extremisten freilich längst das Weite gesucht, und als sie wieder abrückten, standen weder irakische Polizisten noch Soldaten bereit, um die Bürger vor den Gewalttätern zu schützen.
Eingeschüchtert und bedrängt haben sich viele Schiiten, Christen und Mandäer mittlerweile dem Druck der Radikalen, das Quartier zu verlassen, gebeugt. Hussein und seine Familie flüchteten im vergangenen Herbst, nachdem sein letzter Bruder auf dem Nachhauseweg erschossen worden war. „Sunniten haben ihn ermordet“, sagt Hussein. Er wisse genau, wer die Täter waren. Der Nachdruck in seiner Stimme lässt keinen Zweifel daran, dass er den Tod seines Bruders rächen würde, wenn er könnte. Doch seinem Vater war das Leben seines letzten verbliebenen Sohnes wichtiger als das eherne Stammesgesetz der Blutrache. Deshalb forderte er Hussein auf, im Norden des Landes einen Job und eine Bleibe für die Familie zu finden.
Nach Angaben der kurdischen Behörden haben seit dem Bombenanschlag auf das schiitische Heiligtum in Samarra 75.000 arabische Familien in Kurdistan Zuflucht gesucht. Gemäß der UNO beläuft sich die Zahl der Flüchtlinge und der Vertriebenen mittlerweile auf mehr als eine Million. Unter den Flüchtlingen und Vertriebenen sind viele Gebildete wie Nasser Thabit, ein Politologe aus Bagdad.
Drei Monate nach seiner Flucht nach Suleimania will es Thabit noch immer nicht recht in den Sinn, dass ausgerechnet einer wie er ins Visier von Milizionären des radikalen schiitischen Predigers Moktada as-Sadr geriet. Er sei ein überzeugter Nationalist, sagt Thabit. „Ich habe mich offensiv für ein Bündnis zwischen den sunnitischen Gegnern der Besatzung und Sadr eingesetzt“, sagt der Sunnit. Das tat er auch öffentlich als Studiogast von irakischen Fernsehsendern. Die Häscher, die ihm in Jamila, einem mehrheitlich schiitischen Quartier bei Sadr City nachstellten, scherte das nicht. Erst seien sie nur gekommen und hätten von Nachbarn wissen wollen, wer in Jamila Sunnit sei. Damals dachte Thabit noch, ein Gespräch mit dem Chef der Sadr-Bewegung in deren Hochburg Sadr City könnte ihm helfen. Dieser habe ihn kurzerhand für verrückt erklärt. Er könne nicht einmal das Morden unter den Schiiten in Sadr City stoppen, habe der Sadr-Vertreter gesagt. Selbst wenn ihn der radikale Prediger Moktada as-Sadr seinem persönlichen Schutz unterstellen würde, wäre er nicht in der Lage, einen Sunniten zu schützen. Er sollte recht behalten. Nach dem Bombenanschlag in Sadr City, der am 23. November mehr als 200 Tote forderte, kamen die Milizionäre wieder. Diesmal hatten sie jedoch Namenslisten und suchten gezielt nach den Sunniten im Quartier. Es sei sein Glück gewesen, dass nur seine Frau, eine Kurdin, und seine schiitische Mutter zu Hause waren, sagt Thabit.
„Sehen sie sich das an“, unterbricht Thabit plötzlich das Gespräch. Auf seinem Handy ist eine SMS-Nachricht eingegangen. In Adhamia, einem mehrheitlich sunnitischen Quartier, gebe es Häuser für Sunniten, heißt es darin. „Nie würde ich in ein sunnitisches Viertel ziehen“, sagt Thabit empört. „Ich werde mich ihrer Agenda, die darauf zielt, einen Keil zwischen Sunniten und Schiiten zu treiben, nicht beugen“, sagt Thabit. Eher ziehe er es vor, ins Ausland zu gehen oder eben ins kurdische Exil.
Doch mit jedem Bombenanschlag und jedem Mord wird der Riss zwischen den Schiiten und Sunniten des Landes tiefer. Seit dem Bombenanschlag auf das schiitische Heiligtum in Samarra Ende Februar hat der Krieg zwischen den Schiiten und Sunniten, die Racheakte von verfeindeten Familienclans und kriminellen Banden von Monat zu Monat mehr Tode gefordert. Auf die schier endlose Serie von Bombenanschlägen sunnitischer Extremisten haben die Schiiten mit einer nicht weniger erbarmungslosen Jagd auf die Sunniten reagiert. In seinem jüngsten Vierteljahresbericht hat das Pentagon die Mahdi-Armee, die Miliz von Sadr, als größte Bedrohung eingestuft, gefährlicher noch als die sunnitischen Radikalen. Dass Anhänger von Sadr die Hinrichtung von Saddam Hussein zu Treueschwüren für den Prediger missbrauchten, hat die Gräben weiter vertieft. Nicht nur Sunniten sehen in der Exekution einen schiitischen Racheakt.
Wer dem gegenseitigen Morden entkommen will, dem bleibt meist nur die Flucht. Nach und nach Entstehen Regionen und Quartiere, in denen nur noch Schiiten oder Sunniten leben, Bagdad selbst zerfällt dabei immer mehr in einen sunnitischen Westen und einen schiitischen Osten mit dem Tigris als Trennungslinie.
Tief zieht sich Hussein noch einmal die blaue Wolle ins Gesicht. Fotografieren lassen möchte er sich wie die meisten am Platz vor der Moschee nicht. Die Angst vor den Nachstellungen ist selbst hier noch beträchtlich, zumal die Ressentiments von seiten der Kurden gegenüber den Arabern groß sind. Abschätzige Bemerkungen über die Fremden aus dem Rest des Landes sind weit verbreitet. „Man behandelt uns hier wie Ausländer“, sagt Hussein. Wer sich in Kurdistan niederlassen will, braucht einen Bürgen, der gegenüber den Sicherheitsbehörden haftbar ist, sollte der Neubürger sich eines Vergehens schuldig machen. In der Regel ist das der Arbeitgeber oder ein Bekannter. Wer keinen Bürgen beibringen kann, muss die Region unverzüglich verlassen. Als billige Arbeitskräfte sind die Araber freilich willkommen, liegen ihre Löhne doch bis zur Hälfte unter den Gehaltsforderungen von Einheimischen Umgerechnet 8 bis 15 Dollar verdient Hussein am Tag. Während viele Arbeiter selbst jetzt im Winter auf den Baustellen hausen, hat die Familie von Hussein ein Haus gefunden, für die bescheidene Bleibe gehen allerdings umgerechnet 150 Dollar Miete im Monat drauf. Klagen will Hussein trotzdem nicht. „Wir sind hier in Sicherheit, das ist die Hauptsache.“
Während sich Experten im Westen darum streiten, ob man den Krieg im Irak als Bürgerkrieg bezeichnen soll, ist dieser für den Politologen Thabit und die Tagelöhner vor der Großen Moschee in Suleimania längst Realität. „Sunniten bringen Schiiten um und umgekehrt“, sagt Usamahud Tofik. „Hier herrscht Krieg zwischen Religionen.“ Der 23-Jährige gehört der Minderheit der schiitischen Fayli-Kurden an und stammt wie der Tagelöhner Mohammed aus Bakuba. Nach dem sich Drohungen der Sunniten in seinem Quartier häuften, schloss er sich mit den Männern der Nachbarschaft zu einer Bürgerwehr zusammen. In einem Feuergefecht mit Sunniten wurde er schwer verletzt und verließ daraufhin die Stadt. Im ganzen Land gibt es mittlerweile tausende von Bürgerwehren. Oft sind sie von den schiitischen Milizen oder den sunnitischen Untergrundgruppen sowie kriminellen Banden nicht zu unterscheiden.
Wie in ein schwarzes Loch würden die Iraker immer tiefer in den Strudel des Religionskriegs gezogen, sagt der Politologe Thabit. Ein Entkommen gebe es daraus auf absehbare Zeit nicht. „Die Gewalt wird erst ein Ende haben, wenn die Iraker erkennen, dass es in diesem Krieg keine Sieger gibt.“