: Die große bunte Tüte
KULT-TV 24 Stunden lang beschäftigt sich 3sat an diesem Wochenende mit Hamburgs wohl berühmtestem Stadtteil. Schade, dass der Thementag „Oh, St. Pauli“ kaum darüber hinauskommt, Klischees zu bedienen
Kult ist ein zwiespältiges Wort. Der Duden definiert Kult nicht nur als Form religiöser, sondern tendenziell als „übertriebene Verehrung“. Weil die sich so gut vermarkten lässt, kann dazu praktisch alles werden: Lieder sind Kult. Sänger sind Kult. Partys sind Kult. Leute sind Kult. Muster sind Kult. Kleider sind Kult. Shows sind Kult. Siebziger-Tapeten, Matchboxautos, Lederhosen, Weißwürste, Urlaubsziele, Mutter Beimer – der Verwertung entgeht nichts. Kein Wunder also, dass ein Ort als ganz besonders supermegakultig gilt: St. Pauli.
Schließlich vereinigt Deutschlands möglicherweise berühmtester Stadtteil alles, was zur Mythenbildung taugt: Fernweh, Gewalt, Exotik, „Sex and Crime“ und Rock’n’Roll. Allemal genug jedenfalls, um 24 Stunden vom winzigen Viertel mit Tor zur Welt zu berichten: „Oh, St. Pauli“ nennt der TV-Sender 3sat seinen Thementag und bewirbt ihn mit einer „Mischung aus Sex, Kultur, Fußball, Musik, Alternativszene“, die das Quartier von gerade mal 2,6 Quadratkilometern „zu einem der kreativsten Orte Deutschlands“ mache. Was stört es bei so viel Entertainment, dass auf engstem Raum auch noch an die 30.000 Menschen leben.
Aber wir wollen nicht ungerecht sein: Ehrgeiziger immerhin als viele Privatsender, die sich der rotlichternen Kultgegend gern mit runtergelassenen Hosen nähern, versucht der öffentlich-rechtliche Kulturkanal tatsächlich Facetten von St. Pauli auszuleuchten. Und zeigt Kinderfilme wie „Der Hund aus der Elbe“ ebenso wie den Helmut-Käutner-Hans-Albers-Klassiker „Große Freiheit Nr. 7“, Sachliches von der Nachtleben-Reportage „Burlesque auf St. Pauli“ über die Fußball-Hommage „Kiezkick und Punkrock“ bis hin zu „Kiezgeschichten“ über Friseure, Pastoren, Hotels, Clubs und Türsteher – alles in Erstausstrahlung.
Auch Klaus Lemkes seit Jahren in den verbliebenen Stadtteilkinos kursierender „Rocker“ kommt wie der Fischmarkt oder das Konzert zum 100. Geburtstag des FC St. Pauli zum Einsatz. Es ist die große bunte Tüte, die man vom kleinen bunten Viertel erwarten darf.
Durch den Tag führen Gerald Asamoah und Olivia Jones. Ausgerechnet der einzige Fußballmillionär des Aufsteiger-FCs also, der erst seit einem halben Jahr in Hamburg lebt, höchstwahrscheinlich aber in sicherer Distanz am Stadtrand – und der bis auf seine putzige Multikulti-Popularität nichts mit Club oder Viertel zu tun hat. Und, ebenso ausgerechnet, die Vorzeige-TV-Transe, der kein kommerzielles Fernsehformat zu blöd ist, um darin ihre quotenträchtig durchdeklinierten Reeperbahnklischees zu propagieren.
Diese zwei werbewirksamen Kiezfassaden also stehen bei 3sat stellvertretend für eine, ja: Wohngegend, so viel mehr als ein paar Hundert Meter Ballermann-Atmo und ihr sportliches Aushängeschild. Im Interview mit Jones dagegen hagelt es Floskeln von Matrosen, Toleranz und Schmelztiegel, von Bankern, Werbefuzzis und Hafenarbeitern, die angeblich in den Kneipen Seite an Seiten saufen.
Geschenkt, dass dort kein Einheimischer, geschweige denn Eingeborener bei klarem Verstand auch nur eine Minute freiwillig verbrächte. Dass die Meile, einst als sündigste der Welt gelabelt, längst vom Event-Tourismus okkupiert wurde: eine Enklave fürs Ausrastbedürfnis der Landjugend, für Anspruchsvollere eine No-Go-Area. So mag der Thementag in der Summe mehr sein als das übliche Kiezgaudikompendium – dass aber von Schattenseiten und Alltag in 24 Stunden nur selten die Rede ist, zeigt, wie tief das Klischee selbst in den Redaktionen öffentlich-rechtlicher Sender verankert ist.
Kein Wunder, dass für wirklich wichtige Filme wie „Empire St. Pauli“ – über die profitgesteuerte Vertreibungspolitik – kein Platz blieb oder für Veit Bentlages vielschichtige Doku „Da wo die Kontraste knallen“ übers Leben nach dem Morgengrauen gerade mal die Mitternacht. Zur besten Sendezeit läuft ja ein Stromlinienkrimi. Ist sicher auch Kult. JAN FREITAG
Sonntag, ab 6 Uhr, 3sat