: Mitte macht krank
Der Bezirk hat mit immer größeren Gesundheitsproblemen zu kämpfen: Nirgendwo in Berlin ist die Lebenserwartung geringer. Jetzt soll die dortige Tuberkulose-Fürsorgestelle schließen. Dabei hat Mitte die meisten Neuerkrankungen
von Konrad Litschko
Wohl denen, die außerhalb von Mitte wohnen: Mit durchschnittlich 77 Jahren herrscht dort die zweitniedrigste Lebenserwartung in der Stadt, dafür die höchste Säuglingssterblichkeit und der größte Anteil an neuinfizierten Hepatitis-Patienten. Mit dem Wedding befindet sich hier auch die Raucherhochburg der Hauptstadt – fast 40 Prozent der Bewohner sind tabaksüchtig. Mitte hat sich zum ungesündesten aller Berliner Bezirke gemausert. Das zeigen die Ergebnisse des jüngst veröffentlichten Gesundheitsberichts 2006 der Senatsverwaltung, der sich auf Zahlen aus dem Jahr 2005 bezieht. In den Sozial- und Gesundheitsstatistiken wird der Bezirk rasant nach unten durchgereicht. Die Politik tut das Übrige: Die Tuberkulosefürsorgestelle im Wedding soll schließen.
Dabei liegt Mitte auch bei der Zahl der Neuinfektionen mit TBC an der Spitze: Von 382 Fällen entfielen 140 auf den Innenstadtbezirk. Das zweitplatzierte Neukölln kommt auf 91 neue Tuberkulose-Patienten, in Reinickendorf sind es 37.
Bereits im August vergangenen Jahres wurde unter der damaligen Gesundheitssenatorin Heidi Knake-Werner (Linkspartei) entschieden, die Tuberkulosefürsorgestelle zu schließen. „Die Schließung wäre in so einem Problembezirk sicherlich kein günstiger Entschluss“, sagt die Leiterin des TBC-Zentrums, Annette Schulze, betont vorsichtig. „Wir behandeln seit Jahren die meisten Tuberkulose-Patienten in Berlin. Neben Mitte decken wir auch Kreuzberg ab, wo ebenfalls viele Betroffene leben.“ Die Ärztin verweist auf die möglichst ortsnahe Betreuung ihrer Patienten. Tuberkulose-Medikamente würden täglich verabreicht, auch die Kontaktpersonen der Infizierten müssten unter ärztliche Kontrolle stehen. „Unsere Patienten sind nicht so mobil, vielen hapert es am Fahrgeld“, so Schulze.
Ursprünglich sollte das TBC-Zentrum bereits zum Jahreswechsel geschlossen werden. Doch noch liegt der Antrag beim Rat der Bürgermeister. Wird er dort auch durchgewunken, soll im April endgültig Schluss sein. „Von unserer Seite ist da nichts mehr zu ändern“, bekräftigt Marie-Luise Dittmar, Sprecherin der neuen Gesundheitssenatorin Katrin Lompscher (PDS). „Die Maßnahme fällt in den lang geplanten Reformprozess des Gesundheitswesens. Da hätte man gegen die Schließung vielleicht rechtzeitiger protestieren müssen.“ Zudem zähle TBC nicht zu den „massiv ansteigenden“ Krankheiten in Berlin, so Dittmar.
Jeffrey Butler vom Gesundheitsamt Mitte will das nicht so recht glauben. Der Sozialwissenschaftler hatte für seinen Bezirk die Daten des Gesundheitsberichtes aufgestellt – und sieht keinen Grund, bei den Tuberkulose-Neuinfizierungen Entwarnung zu geben. „Das ist eine virulente Infektionskrankheit, die sich besonders dort überträgt, wo Menschen dicht aufeinander wohnen.“ Ein Charakteristikum, das in Mitte nur zu oft anzutreffen ist.
Ein weiterer Grund für allgemein steigende Krankheitszahlen in dem Bezirk ist dessen Bevölkerungsstruktur. „Was den Anteil der Armen angeht, hat Mitte Kreuzberg längst abgehängt. Das führt auch zu einer Vielzahl an gesundheitlichen Problemen“, bekräftigt Butler. Gerade sozial benachteiligte Menschen hätten oft Schwierigkeiten, gesund zu bleiben oder – einmal krank – wieder gesund zu werden. Das bestätigt Karin Stötzner, die Berliner Patientenbeauftragte: „Menschen mit geringem Einkommen – Hartz-IV-Empfänger, Familien mit chronisch kranken Kindern, auch Rentner – verkneifen sich inzwischen bestimmte gesundheitliche Leistungen. Nicht nur in Mitte, sondern in ganz Berlin. Das kritisiere ich auch öffentlich.“
Beispiel Wedding: 21,9 Prozent betrug hier die Arbeitslosigkeit im Dezember, jeder zweite Erwerbslose davon ist auf Dauer ohne Job – die schlechtesten Werte in Berlin. Für Praxisgebühr und Rezeptzuzahlung fehlt vielen Einwohnern schlicht das Geld. Dazu mangelt es gerade in den Ballungszentren migrantischer Kiezbewohner wie Gesundbrunnen an Ärzten: Nach Haus-, Kinder- und Frauenärzten muss hier lange gesucht werden, einen Hautarzt gibt es dort überhaupt nicht mehr.
Das bekommt auch der Nachwuchs zu spüren: Gerade mal 57 Prozent der neu eingeschulten Erstklässler haben im Wedding eine vollständige Vorsorgeuntersuchung absolviert – ebenfalls ein berlinweiter Minusrekord. In Wilmersdorf kommt man auf 79 Prozent. Christina Ritter, Sozialarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) im Wedding, betrachtet die Entwicklung mit Sorge: „Die Leute, die wir betreuen, gehen heute definitiv weniger zum Arzt.“ Bei krassen Fällen müsse das DRK inzwischen mit Stiftungsgeldern bei der medizinischen Versorgung mit unter die Arme greifen.
Das ehrgeizige Ziel Mittes, alle Familien mit Neugeborenen für eine Vorsorgekontrolle aufzusuchen, ist personell nicht mehr machbar. „Aufgrund des Engpasses an Mitarbeitern schaffen wir das nicht“, gesteht Jeffrey Butler ein. Eine Situation, die Mittes Bürgermeister Christian Hanke (SPD) bei der Präsentation des Gesundheitsberichtes von teils „desaströsen Gesundheitsproblemen“ sprechen ließ.