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Archiv-Artikel

Sehnsucht, Entgrenzung

Überhöhung als Stilprinzip: Die schwedische Schriftstellerin Lotta Lotass schwebt zusammen mit Juri Gagarin in den pathetischen Höhen des Weltalls – „Dritte Fluggeschwindigkeit“

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Die Raumfahrtprogramme der späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre waren mehr als nur ein Produkt wissenschaftlichen Forschungsdrangs. Sie waren ideologisch aufgeladene Material- und Propagandakämpfe, die wiederum in einer hochgradig ästhetisierten Inszenierung ihren Niederschlag fanden. Der Flug in das Weltall, so merkte sinngemäß kürzlich auch der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin in einem Gespräch an, war ausgestattet mit sämtlichen Zutaten eines Sciencefiction-Ambientes. Gleichzeitig jedoch wurde geradezu fieberhaft an der Umsetzung gearbeitet. Eine schöne Utopie, die in Zeiten des Kalten Krieges, im Wettlauf um die Beherrschung des Himmels keine bleiben durfte, aber dennoch eine Utopie. Durchaus literaturfähiges Gelände also, auf dem Helden geboren wurden, Mythen entstanden, Dramen sich ereigneten.

Die Schwedin Lotta Lotass hat sich diesen Stoff vorgenommen und mit „Dritte Fluggeschwindigkeit“ einen Roman vorgelegt, der in ihrer Heimat ein Bestseller war und sich in Sprache und Form keineswegs von der Heroisierung zu distanzieren versucht, sondern, im Gegenteil, die Überhöhung zum Stilprinzip erhebt, um daraus poetische Funken zu schlagen. Lotass erzählt die Geschichte des sowjetischen Kosmonauten Juri Gagarin, des ersten Menschen im All. Von Beginn an wird klar, dass dies kein historischer Roman im eigentlichen Sinne ist – der Kalte Krieg und die USA spielen nicht nur keine Rolle, sondern werden noch nicht einmal erwähnt. Stattdessen bleibt Lotass ganz dicht an ihrem Protagonisten und baut ihn, aus unterschiedlichen, manchmal sogar innerhalb eines Absatzes wechselnden Erzählperspektiven, zu einer Heiligenfigur auf. Gerade diese schnellen und häufigen Perspektiv- und Erzählerwechsel zwischen erster und dritter Person sind hin und wieder ermüdend und scheinen auch nicht immer zwingend notwendig; doch sind sie erklärbar durch Lotass’ offensichtlichen Unwillen, eine konventionelle Geschichte einfach so herunterzuerzählen. Denn ihr geht es um etwas anderes: Sehnsucht nach Weite, Grenzerfahrungen, Entgrenzung. Und um die Sterne, das Licht der Sterne.

Juri ist kein gewöhnlicher Mensch. Das zeigt sich bereits in der Kindheit, in der unendlichen Weite und der unermesslichen Kälte Sibiriens, wo der Junge mehrmals unter geradezu mirakulösen Umständen dem Erfrierungstod entgeht: „Jedes Frühjahr, wenn der Schnee schmolz, fanden sie fremde Körper, die auf dem Boden der Wälder festgefroren waren.“ Juri, dem Helden der Sowjetunion, bleibt dieses Schicksal erspart. Er wird Pilot, und hier, in der Höhe, hebt auch Lotta Lotass’ Sprache ab, kalkuliert und ohne jede Scheu vor dem Pathos, das in „Dritte Fluggeschwindigkeit“ Programm ist: „Wenn irgendjemand weiß, wie schwer es ist, die Poesie, die der Luft eigen ist, in Worte zu kleiden, so bist du es. Die Poesie, die man in einem kraftvollen Düsenflugzeug erlebt, wenn innerhalb einer Tausendstelsekunde Zeit und Geschwindigkeit und die sich steigernde Kraft des Motors und die Möglichkeit, jederzeit mit der Maschine direkt in den grenzenlosen Himmel zu schießen, zusammenschmelzen. Etwas Kraftvolles und Glühendheißes fließt durch jede Zelle des Körpers, in jede Nervenspitze.“

Diese Tonlage wäre durchgehend schwer zu halten, als Gegengewicht dienen immer wieder Passagen von geradezu nüchterner Präzision, beispielsweise jene, die die Ausbildung zum Gegenstand haben: Fallexperimente, Hitze, Kälte, starke Vibrationen und schließlich, als Steigerung, absolute Stille, wochenlang, als Vorbereitung auf den Weltraum. Wie es ist mit der dritten Fluggeschwindigkeit? Sie beträgt ungefähr siebzehn Kilometer in der Sekunde oder gut sechzigtausend Kilometer in der Stunde und kann „das Fahrzeug aus dem Sonnensystem hinaus und weiter zu anderen Welten tragen“. Lotass’ Roman fragt nicht nach Sinn und Notwendigkeit der Raumfahrt; er erzählt von menschlichen Träumen und Räuschen und, ganz am Ende, auch vom Aufwachen in einem Albtraum.

Ein Roman des Abhebens. „Dritte Fluggeschwindigkeit“ bedient sich der Ideologiesprache und des unverbrüchlichen Glaubens an den sogenannten Fortschritt, an Zahlen, Daten und Fakten – und überführt sie höchst ambitioniert in die Weiten der Literatur. Das mag gewagt sein, und stellenweise ist Lotass kurz davor, den sprachlichen Boden ein wenig zu lange zu verlassen. Doch wie die Kosmonauten wird auch der Leser dafür mit einem seltenen Licht belohnt.

Lotta Lotass: „Dritte Fluggeschwindigkeit“. Aus dem Schwedischen von Sabine Neumann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006, 218 Seiten, 9 Euro