piwik no script img

Archiv-Artikel

Ein Stadtplan für die Bovary

„Architektur wie sie im Buche steht“: Eine Ausstellung in der Pinakothek der Moderne widmet sich umfassend der fiktionalen Präsenz von Architektur in der Literatur. Tatsächlich haben die Dichter die Baumeister nicht selten auch beflügelt

Maetamms Häuser schildern sachlich Gräueltaten und Horrorgeschichten

VON ROBERT HODONYI

Häuser und Räume haben seit der Antike Eingang in literarische Texte gefunden. Sie stellen eine wichtige Inspirationsquelle für die Dichtung dar. Nicht nur Autoren, die wie Siegfried Kracauer oder Max Frisch gelernte Architekten waren, haben in ihren Werken Fragen der Baukunst und Stadtentwicklung poetisch reflektiert. Ebenso wird das Bauen zur Metapher für kritikwürdige gesellschaftliche Verhältnisse in Heinrich Bölls „Billard um halb zehn“ (1959), Stefan Heyms „Die Architekten“ (2000) oder Brigitte Reimanns „Franziska Linkerhand“ (1974). Doch die Beziehungen zwischen Architektur und Literatur reichen über den Architekturroman hinaus.

In Bezug auf seine Figur Baumeister Solness bemerkte Hendrik Ibsen einmal: „Das ist ein Mann, der mir ein wenig verwandt ist. […] Architektur ist ja mein eigenes Fach.“ Dass Schriftsteller zugleich immer auch Architekten sind, die ihren Werken regelrechte Baupläne und Gebäudestrukturen zugrunde legen, die reale Architektur verarbeiten und erdachte Bauwerke mit vielfältigen politischen, ästhetischen und utopischen Konnotationen evozieren können, verdeutlicht die neue Ausstellung „Architektur wie sie im Buche steht“ des Architekturmuseums der TU München in der Pinakothek der Moderne. Wohl jeder hat sich schon einmal beim Lesen seines Lieblingsromans gefragt, ob das, was sich an räumlichen Assoziationen im Kopf einstellt, mit dem deckt, was die jeweiligen Autoren intendieren.

„Architektur ist in ganz besonderem Maße in Literatur präsent, denn zum einen leben Menschen – seit es Dichtung gibt – in und mit Gebäuden. Wer ihr Handeln beschreibt, muß sie deshalb fast zwangsläufig immer auch mit Architektur verknüpfen“, schreibt Winfried Nerdinger im Begleitkatalog.

So bilden die Architekturzeichnungen, mit denen Autoren ihre räumlichen Welten zu präzisieren suchen, einen Schwerpunkt. Mit ihrer oftmals fein ziselierten Linienführung nehmen diese Blätter selbst schon fast Kunstcharakter an und ermöglichen einen erweiterten Blick in die Entstehung von Texten. Zu sehen sind unter anderem Gustave Flauberts Lageplan von Yonville-l’Abbay, einem der zentralen Schauplätze in „Madame Bovary“ (1856), oder Umberto Ecos Grundriss der berühmten Bibliothek aus „Der Name der Rose“ (1980) mit ihren verwirrenden labyrinthischen Verästelungen. Diese den Schreibprozess unterstützenden Skizzen können wie bei Alfred Kubins Stadtplan zu seinem Roman „Die andere Seite“ (1908) oder Michael Endes Bildern zu „Momo“ (1973) äußerst genau und detailreich sein, aber auch einen flüchtigen Charakter annehmen, wie Hermann Hesses Illustrierung zu „Das Glasperlenspiel“ (1943) zeigt.

Der Ausstellung gingen Seminare an der Fakultät Architektur und des Lehrstuhls für Stadtraum und Stadtentwicklung der TU München voran. Hier wurde die Materialisation von poetischen Baubeschreibungen, Stadtutopien und Idealstädten praktisch erprobt. Die Studenten sollten aus literarischen Texten Passagen über Architektur herausfiltern und nach Möglichkeit visualisieren. Das Repertoire der ausgestellten Entwürfe reicht dabei von Tommaso Campanellas „Sonnenstaat“ (1623) bis zu Versuchen der Sichtbarmachung der Stadtminiaturen aus Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“ (1972).

Gezeigt werden aber auch Solitäre wie ein kubisches Modell des „Ministeriums der Wahrheit“ aus Georg Orwells „1984“ (1948), Astrid Lindgrens sehr genau beschriebene Villa Kunterbunt aus „Pippi Langstrumpf“ (1945) oder der zylindrische Wohnkegel aus Thomas Bernhards Roman „Korrektur“ (1975).

Den Dialog zwischen Schrift- und Baukunst beleuchtet die Ausstellung mit einer direkten Gegenüberstellung von Autoren und Architekten. Der Architekt Toni Garnier konzipierte seine später teilweise in Lyon realisierten Entwürfe zu einer „Cité industrielle“ exakt auf Grundlage von Emile Zolas sozialreformerischen Architekturideen, die dieser in seinem Roman „Travail“ (1901) dargestellt hatte. Und die Glas-Architekturen in Paul Scheerbarts Romanen gaben dem Architekten Bruno Taut wichtige Impulse für sein Glashaus-Projekt, das 1914 auf der Werkbundausstellung in Köln gezeigt wurde.

Der Bedeutung und Funktion der erdachten Architektur in der Literatur wird in der Abteilung „Handlungsräume und Tatorte“ nachgegangen. In Horace Walpoles „Die Burg von Ortranto“ (1764) und anderen typischen „Gothic Novels“ werden zum Beispiel verwinkelte Schlösser und Burgen mit ihren dunklen Gängen und verborgenen Verliesen zu einem eigenen narrativen Handlungselement, das vor allem über die Sphäre des Architektonischen beim Leser starke Affekte des Schauers und des Unheimlichen auslösen soll. Der erzählte Raum könne aber nicht nur die Handlung leiten oder den Blick des Lesers führen, so Nerdinger, sondern auch Personen und deren soziale Situierung charakterisieren und symbolischen oder allegorischen Verweischarakter haben.

In seiner Reihe „Bleeding Houses“ (2004), die selbst Teil der größeren Serie „Speaking Houses“ sind, setzt der Künstler Marko Maetamm in diesem Sinne Häuser als auktoriale Erzählerinstanz ein. Maetamms Häuser schildern äußerst sachlich Horrorgeschichten, Gräueltaten und schreckliche Ereignisse, die sich in ihrem Inneren zugetragen haben, und bluten dabei kräftig aus den Fenstern. Die Arbeiten bestehen aus einer Kombination von Architekturbild und Text. Sie thematisieren das „Nebeneinander von Heimstätte und Schreckensort“ (Heide Strobel). Es gehe ihm darum, so Maetamm, das Augenmerk darauf zu lenken, „was um uns herum und oft sogar gleich nebenan geschieht und uns zu fragen, ob das vielleicht auch etwas mit unserem Leben zu tun hat …“

Bis 11. März, Katalog (Anton Pustet Verlag, Salzburg) 39 €