: Naturkundliches Doppelleben
GEFÜHRTER RUNDGANG Wissenschaft und Kunst: Im Botanischen Garten sind prachtvolle Fundstücke historischer Expeditionen zu besichtigen
Die Blätter sind mindestens 210 Jahre alt. Ihre Farbe ist braun, die Rippen sind kaum erkennbar, hier und dort ist der Rand beschädigt. Sie stammen von einem Baum aus den amerikanischen Tropen, Inga heißt er, und es sind nicht irgendwelche Blätter, sondern der Holotypus, also dasjenige Einzelexemplar, das als Bezugspunkt für alle anderen Exemplare dient und in einer wissenschaftlichen Sammlung hinterlegt wird.
Sie anzuschauen ist etwas Besonderes, zum einen, weil Zerbrechlichkeit und hohes Alter eine eigentümliche Mischung eingehen, zum anderen, weil niemand anderer als Alexander von Humboldt diese Proben eingesammelt und signiert hat. Von 1799 bis 1804 reiste er durch Mittel-, Süd- und Nordamerika, fuhr den Orinoco stromaufwärts und bestieg den Chimborazo fast bis zum Gipfel. Er kartografierte, sammelte, zeichnete, schrieb und erfasste so die Erscheinungen von Pflanzen- und Tierwelt, von Landschaftstypen und Gesteinen.
Dass wir – eine kleine Gruppe von Besuchern der Berlin-Biennale – die Blätter und die reich bebilderten Erstausgaben von Humboldts Schriften sehen dürfen, verdanken wir Walter Lack und Natasha Ginwala.
Der Biologe und die Kuratorin bieten einen hochspannenden Rundgang an, der zunächst in den Keller des Museums im Botanischen Garten führt, in einen Raum, den Lack liebevoll „Fort Knox“ nennt, weil er Schätze wie die Erstausgaben und die Blätterproben enthält. Danach geht es weiter ins Ethnologische Museum, wo Ginwala zwei Räume mit Exponaten bestückt hat.
Die Vitrinen sind Forschern des 19. Jahrhunderts gewidmet, etwa dem Zoologen Carl Wilhelm Hahn (1786–1835), der Spinnen zeichnete und katalogisierte, oder Franz Wilhelm Junghuhn (1809–1864), der die Insel Java erkundete. „Double Lives“ heißt Ginwalas Installation; das „Doppelte“ des Titels bezieht sich auf das Ineinandergreifen von Wissenschaft und Kunst, wie es sich in den Zeichnungen, Stichen, in den Stereoskopien, den frühen Fotografien und Kartenwerken erkennen lässt, genauso wie in den Doppelleben der Naturkundler.
Emin Pasha (1809–1864) zum Beispiel hieß mit bürgerlichem Namen Eduard Schnitzer, er war ein Mediziner aus Oberschlesien, der seiner jüdischen Herkunft wegen das Staatsexamen nicht ablegen durfte. Deshalb praktizierte er im Ottomanischen Reich und konvertierte zum Islam, bevor er nach Afrika aufbrach, wo er ethnologische Objekte sammelte – etwa mit Kaurisschnecken besetzte Kopfbedeckungen –, ornithologische Studien betrieb und Gouverneur eines Gebiets wurde, das im heutigen Sudan liegt.
In Pashas Vita zeigt sich eine dritte Bedeutung des „Doppelten“: die ambivalente Position zwischen Abenteuerlust, kolonialer Machtausübung und wissenschaftlicher Neugier. Ähnliches gilt auch für Alexander von Humboldt, denn er bereiste Süd- und Mittelamerika mit Unterstützung der spanischen Krone. Zugleich sympathisierte er mit den Unabhängigkeitsbewegungen, verstand sich gut mit Simón Bolívar, dem großen Kämpfer gegen die spanische Vorherrschaft, und misstraute der Sklaverei und der Zwangsarbeit, zu der die indigene Bevölkerung genötigt wurde.
Und er war alles andere als ein preußischer Patriot; er liebte es, in Paris zu leben und zu arbeiten, ein großer Teil seiner Schriften ist auf Französisch verfasst. Umso befremdlicher, dass er heute für das restaurative Projekt eines Schlossneubaus im Zentrum Berlins vereinnahmt wird.
CRISTINA NORD
■ Walter Lack und Natasha Ginwala: „The Citizen of the World – A segment of ‚Double Lives‘ “. Geführter Rundgang in englischer Sprache. Botanisches Museum, Königin-Luise-Straße 6–8, Gebühr 8 € (zzgl. Eintrittskarte 8. Berlin Biennale), 11. 7., 12.45–15.45 Uhr. Bitte unter ca@berlinbiennale.de anmelden