: Das Schneewunder von Aspen
Statt Schneeautobahnen bietet der Edel-Skiort in Colorado eine Auswahl freier Pisten. Schon früh entdeckten die Intellektuellen und Kreativen der Westküste das Bergnest. Jeder Einwohner von Aspen verbraucht Unmengen von Energie. Doch im Trend liegt, wer die Straßenheizung abschaltet
VON DIETMAR DENGER
Das Glück misst gut 15 Zentimeter oder 6 Inch. Mindestens. Heute ist ein ganz besonderer Glückstag. Es hat Unmengen geschneit. So viel ist sicher, es wird wieder ein „Six Inch Day“! Das bedeutet nicht weniger als den emotionalen Ausnahmezustand in Aspen, Colorado. Viele Geschäfte und Büros werden heute geschlossen bleiben. Die Mitarbeiter machen sowieso blau. An Tagen wie diesem gibt es wichtigere Dinge als Business. Am besten gleich am Morgen die „First Line“ ziehen, die erste verspielte Linie bergab im unberührten Schnee. Klingt wie die Sprache von Junkies. Ist es auch: Viele hier sind süchtig nach dem einzigartigen Pulverschnee, den sie hier nicht zu Unrecht „Champaign Powder“ nennen.
Skifahren auf Schnee, der wirklich anders ist. Weich, herrlich! Schnee, der niemals eisig kratzt, pappig knirscht, nie wässrig schmatzt oder künstlich reibt, wie man es aus Europa gewohnt ist. Für einen Saison-Pass auf den legendären vier Skibergen tun Freaks denn auch fast alles. Der Ort wimmelt von „Volunteers“ – Freiwilligen, die Touristen gratis die Pisten zeigen, die mitten auf den Pisten Gratis-Tee ausschenken, in die Lifte hinein- und wieder heraushelfen oder Vollkornkekse zur Stärkung reichen. Wovon ein Ski-Maniac lebt, mit wenig mehr als einem Ski-Pass? Kristin, unser Guide für die nächsten Stunden, lacht, überlegt, grinst: „Irgendwie geht es immer.“ Sie kam aus New York, um Ski zu fahren. Sorgen sind jetzt mindestens so weit entfernt wie die Hektik Manhattans.Für die mächtige Aspen Ski Company als Betreiber der Lifte ist dieser magische Ruf Aspens ein glänzendes Geschäft. Für die zahlenden Touristen ist es ein einmaliger Genuss: Solchen Service sucht man in den Alpen vergebens.
Türme aus Schnee. So still, kalt und klar ist dieser Morgen in dem ehemaligen Silberminen-Städtchen auf 2.400 Metern. Das Schwierigste für Touristen ist allenfalls die Entscheidung für den richtigen Skiberg. Alle vier sind in wenigen Minuten mit dem Shuttle zu erreichen. Aspen Mountain, der steile Hausberg, ist verlockend, ragt er doch unmittelbar aus dem Ortszentrum auf. Bei den Kids ist ein anderer angesagt: In Buttermilk finden jährlich die „X Games“ statt, eine Art Olympiade für Snowboarder und Skifahrer, die sich eher in der Luft als im Schnee aufhalten. Der Gag dabei: Die Riesenschanzen, gigantischen Halfpipes und Hindernisse bleiben nach den Wettkämpfen stehen. Jeder kann sich dann versuchen an einem „Frontside 900“, „Air to fakie“ oder „Mc Twist“. Was immer das heißen mag, es ist gefährlich! In den unermesslichen Weiten der Aspen Highlands finden sich dagegen Pisten für Anfänger wie auch für geübte Skifahrer. Doch was heißt überhaupt „Pisten“ in Aspen? Oft ist man allein. Statt Schneeautobahnen ist das Terrain schier endlos. Heute fahren wir in Snowmass, dem größten und mit bis zu 3.813 Metern höchsten Gebiet im Quartett. Der neueste Lift trägt uns in neun Minuten fast anderthalb Kilometer hoch. Man möchte nicht mehr aufhören. Bei mehr als 87 Pisten auf fast 13 Quadratkilometern allein in Snowmass.
Ein früher Après-Ski in Aspen lockt. Auf den ersten Blick ist da die verschlafene Westernstadt mit gerade 6.000 Einwohnern, in der jeder jeden kennt. Hinzu kommt der schräge Glamour, der oft mit dem eigenen Jet ins Tal kommt, ob als geliftetes Cowboy-Pärchen oder als Streichel-Frettchen, von dürren Models an der pinkfarbenen Leine spazieren geführt. Vor allem aber ist in der klaren Bergluft der freie Geist à la Berkeley zu spüren. Das hat Tradition. Schon früh entdeckten die Intellektuellen und Kreativen der Westküste das Bergnest. Das Aspen Institute wurde gegründet, eine Art philosophischer Think-Tank, das beim „Aspen Idea Festival“ regelmäßig die bedeutendsten Köpfe aus Wissenschaft, Kunst und Politik zusammenführt. Literatur-, Jazz-, Theater- und Kunstfestivals füllen den Jahreskalender, Stiftungen jeglicher Art wurden hier gegründet, und immer wieder dekorieren die besten Hotels wie das St. Regis für Charity-Veranstaltungen. Der Ort scheint nur so beseelt von Visionen einer besseren Welt. Im Kleinen verfolgt die auch das Umweltinstitut Aspen Center for Enviromental Studies (ACES), mit dem wir uns am nächsten Morgen auf dem Gipfel verabredet haben.
Hoch oben am Aspen Mountain wollen wir Natur erleben. Das ist in Aspen leicht, die Wildnis beginnt gleich hinter der Piste. Manchmal verschwimmen die Grenzen aber auch, wie uns Guide Andrew erklärt. „Besonders am Ende langer Winter nutzen Pumas die Pisten für eine bequeme Abfahrt auf vier Pfoten, um in den Wohngebieten nach Fressbarem zu schnuppern.“ Statt über Berglöwen stolpern wir am Lift-Ausstieg in 3.400 Meter Höhe fast über Willi Bogner und Thomas Gottschalk. Wir stapfen mit den Schneeschuhen ein paar Meter in den Wald hinein und sind von grandioser Stille und Weite umgeben. Da eine Coyote-Spur. Dort hat sich ein Schneewiesel seinen Weg durch die weißen Massen gegraben.
Ein Paradies muss das sein bei derart possierlichen Forschungsobjekten. Und angesichts von durchschnittlich siebeneinhalb Meter Schnee pro Winter braucht man sich doch wohl kaum Sorgen über den Klimawandel zu machen. Doch weit gefehlt, das ACES ist besorgt. „Im vergangenen Winter gab es 30 frostfreie Tage mehr als zu Beginn der Messungen vor 50 Jahren“, referiert Andrew. Zwar beziehe Aspen mittlerweile mehr als die Hälfte seines Energiebedarfs aus erneuerbaren Energien. „Andererseits verbraucht jeder Einwohner dreimal so viel Energie wie der Durchschnitts-Amerikaner.“ Und der hat immerhin auch noch den doppelten Bedarf eines Mitteleuropäers. Überall in der Stadt und entlang der Pisten kann man es sehen: Die Auffahrten der Ferienvillen werden auf hunderte Meter beheizt, und aus den Pools im Garten dampft das Wasser selbst bei strengem Frost mit wohliger Körpertemperatur. Ununterbrochen. „Sogar dann, wenn die Besitzer nur am Wochenende kommen“, wie Andrew ermittelt hat. Wer nicht gleich direkt mit dem eigenen Jet aus Palm Beach, L. A. oder Palm Springs einfliegt, nimmt die vier Stunden auf dem breit ausgebauten Highway von Denver in Kauf. Aber mindestens in jener Art von Allrad-Gefährt, das in deutschen Großstädten niemals einen Parkplatz fände.
Doch Aspen wappnet sich. „Fast Food zu Schneepflügen“, so etwa könnte ein Schlachtruf der ökologischen Revolution in den Bergen lauten. Mit dem Bratfett und Fritteusen-Öl der Restaurants werden neuerdings die Schneeraupen und Schneeschieber angetrieben. Ökologisches Bauen ist angesagt wie nie zuvor. Mit dem natürlichen Gefälle des Wassers für die Schneekanonen wird gleich Energie für 400 Haushalte mit erzeugt. Auf den stürmischen, wilden Höhen der Gore Range sind neuerdings Windräder auszumachen. Gute Ideen, aber noch lange nicht genug, findet Andrew. „Spart Energie, geht zu Fuß“, mahnt er am Ende der Tour. Und Andrew ist nicht allein.
In in diesem Jahr ist deshalb, „wer in dieser Saison die Straßenheizung abschaltet und den Schnee selbst schippt“. Das steht im „Aspen Magazine“. In dem hochglänzenden Lifestyle-Ortsorgan werben Airlines für private Leasing-Jets mit Yoga-Kursen an Bord und wird der Leiter des neuen 3,5-Millionen-Tierheims zugleich zum „Menschen des Jahres“ gekürt. Für Chefredakteurin Janet O’Grady passt das zusammen: „Man leistet sich die Verschwendung und dann ein gutes Gewissen, das gehört zu Amerikas herrlichen Widersprüchen.“ Und doch legt die blonde Mittdreißigerin Wert darauf, das Besondere der Einheimischen hervorzuheben: „Spiritualität und Bewusstsein im Leben zu pflegen“, so die junge Frau im Plüschpelz, „ohne andauernd davon zu reden.“ Und Umweltbewusstsein gehöre in Aspen dazu, „denn die Natur ist unser wichtigstes Kapital“. Drum fährt die Chefredakteurin auch im Winter Fahrrad, und das in einem Land, in dem Radler sich noch immer die indiskrete Frage gefallen lassen müssen, ob sie denn kein Auto hätten. Die Gäste passen sich gern an.
Auf den Gehwegen und in den Hotels führt der Geist von Aspen augenscheinlich zu wohltuendem Understatement. Von Ausnahmen abgesehen, ist man reich. Von Ausnahmen abgesehen, wird damit nicht geprotzt. Erst beim zweiten Hinsehen erkennt man beim Essen dann den Oscar-Preisträger neben sich. Apropos: Viele der 80 Restaurants bieten mittlerweile beste und sehr kreative Küche. Spötter sagen, dass das an den vielen Einwanderern aus Europa läge. Im „Elevation“ beispielsweise wird man persönlich vom Besitzer Gunnar Sachs begrüßt. Ja, richtig, der Sohn von Alt-Goldkettchenträger Gunther. Dem Filius ist seine kulinarische Mission indes wichtiger als der Stammbaum. Sachs ist betont unprätentiös und dennoch der beste Informant in Sachen Celebrity und Klatsch. Und kann in der Regel mit einer prominenten Gästeliste aufwarten. Im spärlich beleuchteten Lokal, in dem Stiefmama Brigitte Bardot als echter Warhol in allen Farben von der Wand herableuchtet, kann sich bei originellen Köstlichkeiten wie Wasabi Ceasar oder Shrimp Quesadillas denn auch als Paparazzi betätigen. „Da hinten, das ist doch?“ Die Klum? Leider nicht. „Die war aber gestern da“, erzählt Sachs.
Gleich zwei quietschende Mädchen helfen am nächsten Morgen in den Lift. Die Begrüßung ist herzlich. „Hi, ich bin sicher, Sie werden einen wundervollen Tag haben!“ Wie bitte? Wer im Skileben bislang rauchende, grantige Liftaufseher gewöhnt war, für den ist Aspen wie ein alpines Erweckungserlebnis. Anfangs ist man argwöhnisch. „Das können die doch nicht ernst meinen?!“ Doch, können sie. Außer von Geld zehrt man vom Rausch des perfekten Schnees. Der Kellner aus Florida, der Busfahrer aus Texas, die unglaublich gutaussehenden Lift-Girls aus Argentinien: Alle haben diese verräterisch weißen Ränder, die Skibrillen auf dunkler Gletscherbräune hinterlassen, dieses entspannte Lächeln im Gesicht. Eindeutige Indizien für Endorphine im Champaign Powder der Skiberge. Aspen, das ist wie ein „Wir wollen doch alle nur das eine“-Geheimbund.
Man kann es verstehen. Bei einem Mittags-Snack auf 3.418 Metern in Aspen Mountain etwa, am knisternden Lagerfeuer im Sundeck-Restaurant. Das wurde jüngst zu einem der „biologischsten Häuser Amerikas“ gewählt und erinnert, warm und heimelig, mehr an ein Literatur- denn ein Pistenrasthaus. Und dann, irgendwann und irgendwo zwischen den Aspen-Trees, wird man bei der Abfahrt wieder richtig euphorisch in diesem stillen Schnee. Am besten ewig so dahingleiten, fantasievolle Linien in den Schnee ziehend, mit glitzernden Wolken hinter sich: „Rocky Mountain High“.
Das ist der Titel so einer herrlich kitschigen Schnulze von John Denver. Der war übrigens ein früher Öko am Berg, hatte Aspen Mountain gegenüber sein Haus. Hier, und nur hier, kann man plötzlich begreifen, wie man solche Lieder schreibt. Ein anderer Song vom blonden Barden in Wildlederjacke mit Fransen: „Thank God I’m a country boy“ – zum Glück bin ich ein Landei. In Aspen möchten auch Großstädter gern für immer bleiben. Und dem alten John seien seine Lieder verziehen.