Die nackte Haut

Die iranische Comiczeichnerin Marjane Satrapi geht in „Huhn mit Pflaumen“ in die liberalen 50er-Jahre zurück

Von seinem Leibgericht, Huhn mit Pflaumen, verabschiedet sich Nasser Ali Khan am 16. November 1958, sechs Tage vor seinem Tod. Gerade hat sein Bruder Abdi ihn verlassen, ohne ihn zum Kinobesuch überreden zu können – selbst die vollbusige Sophia Loren in „Die Frau vom Fluss“ bringt Nasser Alis Entschluss nicht ins Wanken: „Ich will sterben.“ Statt ins Kino zu gehen, haben die Brüder über die Vergangenheit gesprochen, über Abdis erfolgreiche und Nasser Alis ruhmlose Schulzeit, seinen Werdegang als brotloser Musiker und die Frage, welchen von beiden die Mutter mehr geliebt habe. Gegenseitige Vorwürfe bleiben nicht aus. Abdis Mahnung, dass sein lebensmüder Bruder an seine Familie denken müsse, kontert Nasser Ali, indem er Abdi an seine Zeit als Kommunist erinnert: „Hast du nur eine Sekunde überlegt, was sie durchmachten, als du im Gefängnis warst?“

Die hier anklingende Frage, welche politische und familiäre Verantwortung ein Künstler hat, wurde Marjane Satrapi seit dem weltweiten Erfolg ihres Comics „Persepolis“ wohl schon oft gestellt. Schließlich gilt vor allem der erste Band „Eine Kindheit im Iran“, der aus kindlicher Perspektive den Ausbruch der Islamischen Revolution und die ersten Jahre des Iran-Irak-Krieges schildert, als Musterbeispiel eines autobiografischen Erzählens, das gesellschaftlich-politische Entwicklungen mit reflektiert. Dass die seit 1984 im Ausland lebende Satrapi sich für ihr neues Werk vom eigenen Leben ab- und dem Sterben ihres Großonkels Nasser Ali Khan zugewandt hat, mag damit zu tun haben, dass sie der Rolle der politisch engagierten iranischen Künstlerin ein Stück weit entkommen wollte.

Nasser Alis Geschichte beginnt im Herbst 1958, als seine Frau in einem Wutanfall seinen Lieblings-Tar zerbricht. Die traditionelle Laute aus dem Iran ist ein Instrument, das er meisterhaft beherrscht, dessen Spiel ihn aber von häuslichen Pflichten und einträglicheren Arbeiten abhält. Als zwei neue Tars nichts taugen, beschließt Nasser Ali, fortan nichts mehr zu essen und zu sterben.

Satrapi erzählt von diesem Sterben in acht Kapiteln. Sie sind jeweils einem Tag gewidmet, dazu meist angefüllt mit Reminiszenzen an Begebenheiten aus dem Leben Alis und seiner Familie, die für seine Kunst eher ein Handicap gewesen zu sein scheint. Der politische Hintergrund dieser Zeit findet sich nur angedeutet in einigen Gesprächen und Fußnoten. Im Jahr 1958 war das Klima liberal, es herrschte Schleierverbot, Sophia Loren durfte Haut in den Kinos zeigen, und Künstler konnten sich ausschließlich ihrer Kunst widmen.

Gezeichnet ist diese Geschichte im selben naiv anmutenden Stil, den Satrapi seit ihren Anfängen als Kinderbuchillustratorin perfektioniert hat: Die reduzierten, statischen und in harten Schwarzweiß-Kontrasten gehaltenen Bilder erinnern auf den ersten Blick an ein orientalisches Märchen. Doch Satrapi durchbricht die Legende des an der Indifferenz der Welt zugrunde gehenden Künstlers geschickt durch Vor- und Rückblenden, die enthüllen, dass die Quelle von Ali Nassers Leiden eine unerfüllte Jugendliebe ist: Eine Kunst ohne einen Bezug zur Welt kann es eben nicht geben, aber ein Künstler mit nur einer einzigen Bezugs- und Inspirationsquelle kann auch schnell aus der Welt herausfallen. Bei Satrapi selbst muss man sich darüber keine Sorgen machen: Sie ist nicht nur ein Meister ihres Mediums, ihr neues Buch zeigt auch, dass sie auch jenseits der eigenen Erlebnisse wunderbar lebendige und kluge Geschichten erzählen kann. VOLKER HUMMEL

Marjane Satrapi: „Huhn mit Pflaumen“. Edition Moderne, Zürich 2006. 96 Seiten, 18 €