: Rudelkuscheln in Bronze
NIEDERLANDE Selten gab es um das Oranjeteam eine größere Harmonie als nach dem Sieg im Spiel um den dritten Platz in Brasilia. Wie das DFB-Team zerbröselten auch die Niederländer das fußballerische Vermögen ihrer Gegner ins Nichtige
AUS AMSTERDAM TOBIAS MÜLLER
Fast schien es, als hätten die niederländischen Spieler in der Nacht zum Sonntag nach dem Spiel gegen Brasilien noch einen kleinen Jubel-Contest angehängt. „So stolz, Teil dieses Teams zu sein“, tippte Abwehrentdeckung Stefan de Vrij während der Ehrenrunde auf Twitter. „Ihr seid geweldig, Boys“, so Georginio Wijnaldum, der mit dem 3:0 das letzte niederländische WM-Tor kurz vor dem Abpfiff erzielt hatte. Und Voetbal International, das Zentralorgan des hiesigen Fußballjournalismus, übernahm als Titel gleich die Worte Klaas-Jan Huntelaars: „Herrliches Ende.“
Nun gehört eine gelöste Stimmung bei den Bronzegewinnern durchaus zur WM-Folklore, ebenso wie die Diskussion um den Wert des „Kleinen Finales“. Zumal, wenn man das betreffende Team dort vor dem Turnier nicht erwartet hätte, zieht der dramaturgische Mix offenbar Fans, Betreuer und Spieler in seinen Bann: das Scheitern kurz vor dem großen Ziel, oft denkbar knapp, manchmal gar unverdient, die Trauer, das Wiederaufstehen, zu guter Letzt der Jubel, dem ein Hauch Melancholie anhängt. Man kennt das auch von der WM 1994, als Schweden Dritter wurde oder von 2006 und 2010, als Deutschland den dritten Platz belegte. Natürlich ist diese rasche Folge von Hadern und Weitermachen vom Spielplan diktiert.
Auch Oranje 2014 bildet da keine Ausnahme. Hätte man die Wahl gehabt, man wäre in diesem heißen und kühlen brasilianischen Winter wohl kaum noch einmal in die bunten Kickbotten gestiegen. Allerdings hätte man das Match auch entspannter angehen können, so wie das legendäre Team von 1998: Im Halbfinale verlor es erst nach Penaltys gegen Brasilien, danach das kleine Finale gegen Kroatien.
Dass sich dies nicht wiederholte, lag auch an Patrick Kluivert, dem Topscorer von 1998 und heutigen Assistenten Louis van Gaals. „Patrick hat viel darüber erzählt. Er behielt ein schlechtes Gefühl davon“, zitiert der Telegraaf Dirk Kuyt.
Nach dem Schlusspfiff schaute Kluivert in all dem Jubel eindringlich in die vorbeischwenkende Kamera. Als wolle er zeigen, aus dem Fehler von einst gelernt zu haben. Wie überhaupt das Oranje von 2014 eine gänzlich andere Erscheinung hat als die stilprägende Generation der neunziger Jahren, die neben spielerischer Brillanz auch von Allüren und Gruppenbildung geprägt war. Das Team, die ganze Reisegruppe ist auch deswegen für den emotionalen Bronzetaumel geradezu prädestiniert, weil man seit Beginn der Vorbereitung vor sieben Wochen diese Harmonie zumindest sehr überzeugend nach außen trägt.
Im Binnenverhältnisse muss es ähnlich zugegangen sein, wofür die Geschichte von Michel Vorm spricht. Dass Louis van Gaal abermals kurz vor dem Schlusspfiff den Torwart wechselte, hatte nichts mit Taktik und alles mit einer Geste zu tun: Vor dem Match hatte der Coach Vorm einen Einsatz versprochen, da er als Einziger aus dem 23-Männer-Kader noch nicht zum Einsatz gekommen war. Ein Novum in der niederländischen Turnierhistorie, sicher. Bemerkenswerter aber war, dass van Gaal damit einem Wunsch der Spieler nachkam. Diese, sagte er hinterher dem öffentlichen Rundfunksender NOS, hätten ihn gebeten, den Keeper des walisischen Klubs Swansea City A.F.C. gegen Brasilien ins Tor zu lassen, und sei es nur kurz.
Es gab andere Zeichen dafür, dass die Harmonie echt war. Hat man etwa Arjen Robben jemals so häufig während Interviews über das ganze Gesicht strahlen gesehen wie in diesen Wochen in Brasilien? Kaum noch wunderte man sich, dass van Gaal, der knurrige Bondscoach, als alles vorüber war, von der „bei weitem besten Mannschaft, die ich je trainiert habe“, sprach und ausdrücklich anhängte, das Superlativ betreffe nicht nur das Fußballerische.
Passé ist vorerst auch die stilistische Diskussion, die vor und zu Beginn der WM zum Teil geführt wurde. Schon nach dem Halbfinale musste man sehr in die Tiefen der Onlineforen tauchen, um noch Kritik am deutlichen Primat der Verteidigung zu finden. Der Kommentator erwähnte sie jedenfalls nach dem Schlusspfiff Samstagnacht mit keinem Wort und setzte stattdessen zu einem epischen Lobgesang auf die Heldentaten Oranjes in Brasilien an.
Am Ende des Turniers nun steht die Erkenntnis, dass Orange mit Bronze gemischt Rudelkuscheln ergibt. Selbst die kleine Privatfehde zwischen Robin van Persie und Kommentator Pierre van Hooijdonk, zurückgehend auf ihre gemeinsame Zeit bei Feyenoord Rotterdam, konnte der allgemeinen Harmonie nichts anhaben. Die Spitzen gingen nach außen, so wie im Fall der scherzenden Avancen Louis van Gaals in Richtung Arjen Robben. Dieser, so der Bondscoach, sei bei seinem neuen Club Manchester United jederzeit willkommen.
Dankbar wurde der Satz von internationalen Medien aufgenommen. Was van Gaal ganz, ganz vielleicht ein kleines Grinsen entlockt haben könnte.