„Das ist vergiftetes Denken“

GESELLSCHAFT Der israelische Schriftsteller Nir Baram will die Trennung von Juden und Palästinensern nicht mehr akzeptieren. Die Juden hätten versäumt, den Rassismus zu bekämpfen. Sie sollten die Besatzung beenden

■ Herkunft: Der 38-Jährige kam in Jerusalem zur Welt. Er stammt aus einer Politikerfamilie, sowohl sein Vater als auch sein Großvater waren Minister der Arbeitspartei unter David Ben Gurion und Jitzhak Rabin.

■ Arbeit: Baram arbeitet als Schriftsteller, Journalist und Lektor. Er setzt sich aktiv für die Gleichberechtigung der Palästinenser und für Frieden in Israel ein.

■ Bücher: Seine Romane „Gute Leute“ (Hanser, 2012) und „Der Wiederträumer“ (2009) standen jeweils auf der Shortlist des Sapir Prize, des wichtigsten israelischen Literaturpreises. Mit „Gute Leute“ war Nir Baram zudem Finalist des Premio Roma in der Sektion fremdsprachige Literatur. 2010 erhielt Baram den Prime Minister Award for Hebrew Literature.

INTERVIEW FELIX ZIMMERMANN

taz: Herr Baram, wieder eskaliert der Nahostkonflikt, wieder fliegen Raketen, fliegen Kampfflugzeuge, sterben Menschen. Sie sind Schriftsteller, verstehen sich als linker Israeli – wie hoffnungslos sind Sie, was die Lage ihres Landes angeht?

Nir Baram: Als israelischer Bürger, der in Israel lebt und hier auch bleiben will, muss ich daran glauben, dass es Hoffnung auf einen Wechsel gibt. Aber dieser Wechsel wird nicht aus dem Nichts kommen. Es ist ein Puzzlespiel, an dem wir mitwirken müssen.

Aber wer setzt das erste Teilchen?

Das müssen wir machen, die Veränderung muss von unten kommen. Wir – auch die Linke – haben die vollständige Trennung von Israelis und Palästinensern akzeptiert. Keiner kann sich vorstellen, mit den Palästinensern jemals zusammenzuleben, auf dieselbe Schule zu gehen, das Land mit ihnen zu teilen. Immer wurde uns eingeredet, es gebe einen unüberwindbaren Gegensatz zwischen uns und ihnen. Daraus ist ein Rassismus erwachsen, den wir nie bekämpft haben.

Im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt wird hier immer wieder von der Zweistaatenlösung geredet. Glauben Sie noch daran?

Irgendwann kann man darüber reden, aber jetzt sind wir erst einmal selbst dran. Wir dürfen die Trennung von Juden und Palästinensern nicht länger akzeptieren, nicht die physische durch die Trennmauer, und auch nicht die in unseren Köpfen. Politiker, die staatlichen Institutionen, sie alle haben diese angeblich unüberwindbare Trennung in unseren Köpfen verankert. Wir und sie können nicht miteinander. Das will ich ändern.

Wozu hat diese Trennung geführt?

Sie hat ein jüdisches Getto geschaffen. Darin sitzen wir und glauben an unsere Rechtschaffenheit, unsere moralische Überlegenheit, daran, dass alles gut und richtig ist, was wir machen. Wir müssen das hinterfragen.

Sehen Sie Politiker, die diesen Wandel befördern könnten?

Nein. Die Politiker der Linken sind eine Kombination aus Clowns und Feiglingen. Wenn Jitzhak Herzog zum Beispiel …

der Vorsitzende der linken Arbeitspartei …

… im Fernsehen redet, dann hört es sich so an: Das jüdische Volk muss dieses tun, das jüdische Volk muss jenes tun. Gibt es Spitzenpolitiker in normalen Ländern, die über ihre Landsleute reden und dabei beständig 20 Prozent von ihnen ignorieren? Das ist vergiftetes Denken – auch in der Linken.

Welche Rolle spielt Premierminister Benjamin Netanjahu?

Er ist Teil des Problems, seine Regierung befördert den Rassismus. Sein Regime steht auf zwei ideologischen Säulen: einmal auf dem Holocaust, der immer präsent gehalten wird. Er ist immer da. Und dann tut Netanjahu alles dafür, unsere Stärke zu reklamieren. Das ist eine gefährliche Kombination – weil er die Israelis so überzeugt, dass sie andauernd Angst haben, sich vor dem nächsten Auschwitz fürchten müssen. Und dass es der einzige Weg sei, dass wir das niemals mehr erleiden müssen, stark zu sein, zu kämpfen. Und die Leute glauben daran. Noch. Denn ich habe das Gefühl, dass sie skeptischer werden.

In den letzten Jahren sind rechte Parteien stärker geworden.

Die rechten Partei sind so stark, weil sie mit ihrer Sprache und Ideologie die Juden zusammenschweißen. Juden gegen die Palästinenser, Juden gegen Nichtjuden, Juden gegen den Rest der Welt. Wir gegen alle. Diese Sprache verstehen sie, denn das wird uns seit der Grundschule eingetrichtert, in der Armee, in Zeitungen.

Und die Linke?

Redet weiter von der Zweistaatenlösung und vom Frieden. Aber das ist nicht die Antwort. Wir müssen die Leute überzeugen, dass man in dieser vergifteten Atmosphäre nicht leben kann.

Sie wollen die Werte der Gesellschaft verändern, um den Konflikt zu lösen. Das klingt nach einem langen Weg. Glauben Sie, dass viele Israelis so denken?

Wenn ich das, was unsere Armee in den letzten Tagen in Gaza angerichtet hat, mit dem vergleiche, was bei der letzten Operation im Jahr 2012 war, dann sehe ich zwei wesentliche Veränderungen. Ich sehe diesmal keine Euphorie darüber, dass die Armee Ziele in Gaza bombardiert. Und ich sehe keine Glorifizierung der Soldaten. Die israelische Gesellschaft wird müde. Und sie ist enttäuscht. Ihr wird vor jeder Militäroperation versprochen, danach werde alles besser sein als vorher. Aber das ist nicht so, es kehrt keine Ruhe ein. Auf jede Operation folgt die nächste. Das ist der Teufelskreis, den wir durchbrechen müssen.

Vor wenigen Tagen wurde ein palästinensischer Junge ermordet – von jüdischen Israelis, wohl aus Rache für den Mord an drei jungen jüdischen Israelis.

Ich glaube, dass gerade der Mord an Mohammed Abu Chedair die Öffentlichkeit schockiert hat. Weil viele hier, auch jemand wie Justizministerin Tzipi Livni, dachten, Juden könnten so etwas gar nicht tun. Dann ist es doch passiert – und hat die Atmosphäre zumindest der liberalen Israelis verändert. Gerade unter jungen Menschen meiner Generation erlebe ich das. Wir, die wir doch die Guten sind, die moralisch Überlegenen! Es ist an der Zeit, kämpferischer zu werden.

Als ich vor gut zehn Jahren eine Zeit in Israel lebte, hatte die Deutsche Botschaft in Tel Aviv sehr viel mit Israelis zu tun, die aufgrund deutscher Vorfahren deutsche Pässe beantragten. Es war die Zeit der Zweiten Intifada, die Leute wollten sichergehen, ihr Land eines Tages verlassen zu können und anderswo in Frieden zu leben. Haben Israelis heute wieder Grund, ihr Land zu verlassen?

Ich höre von vielen, dass sie darüber nachdenken. Weil sie meinen, Israel lasse sich nicht verändern. Wenn sie 20 Jahre nach vorne denken, sehen sie keine positive Zukunft für Israel. Ich und meine Freunde bleiben. Es ist unsere Sprache, unser Land, wir sind nicht bereit, den Kampf aufzugeben.

Sie leben seit zehn Jahren in Tel Aviv, in der Nähe des Rabinplatzes. Dort, wo am 4. November 1995 Premierminister Jitzhak Rabin ermordet wurde. Damit endete damals eine große Verheißung auf friedliche Zeiten. Wie haben Sie das erlebt?

Ich war 19. Es war ein riesiger Schlag für mich, für uns. Wir hatten Hoffnung, Israel und den Nahen Osten ändern zu können. Ein optimistisches Gefühl. Wir haben es verloren, durch Rabins Tod und als die Friedensverhandlungen in Camp David 2000 scheiterten. Die Linke wurde unsicher und ängstlich. Und was jetzt passiert, der Mord an Mohammed Abu Chedair und die rassistischen Krawalle überall, diese ganze Atmosphäre ist die Folge. Weil wir den Rassismus nie entschieden bekämpft haben. Jetzt müssen wir handeln. Wir dürfen den Mord nicht vergessen und müssen die Öffentlichkeit fragen: Ist das das Leben, das du willst? In diesem Getto zu leben, ist das das Beste?

Die Hamas schickt Raketen, manche fliegen bis Tel Aviv. Haben Sie heute Angst dort?

Nein. Vor 20 Minuten heulten die Sirenen, wir gingen runter ins Treppenhaus und standen dort mit den Nachbarn, dann war es vorbei. Hamas wird Israel immer wieder angreifen, Israel wird sich verteidigen. Aber was hier passiert, kann man nicht vergleichen mit dem, was in Gaza passiert, wo schon Dutzende gestorben sind. Wir sind die Stärkeren, wir sollten die Besatzung beenden. Ich habe keine Angst, ich bin einfach nur sehr, sehr traurig.