Zweckehe und Riesenpixel

Manchmal verblüffend und ironisch, manchmal etwas platt: In seinem „Sprengelprojekt“ kombiniert Thomas Ruff eigene Fotoarbeiten mit Werken aus den Beständen des Sprengel Museums in Hannover

Am besten sind Ruffs Interventionen dann, wenn er sich ironische Seitenhiebe auf die Kollegennicht verkneifen kann

von TIM ACKERMANN

Thomas Ruffs Arbeiten haben schon viele Bewunderer gefunden, allerdings selten so innige: Wie festgenagelt steht sie da, die kleine Frau, und blickt sehnsüchtig auf das bläulich schimmernde Eismeer. Lange verharrt sie, unendlich lange, ohne dem Objekt ihrer Begierde einen Schritt näher zu kommen. Wie sollte sie auch? Die Füße der Frau wurden von Alberto Giacometti in Bronze gegossen.

Der Dialog einer Giacometti-Figurine mit zwei Fotos aus Ruffs „Jpeg“-Serie gehört zu den gelungensten Kombinationen in der aktuellen Sammlungspräsentation des Sprengel Museums Hannover. Zugegeben: Die kleine Frau hätte genauso sehnsüchtig einen Judd oder einen röhrenden Hirsch angehimmelt. Doch sind nun mal pixelige Internet-Blow-Ups wie die beiden Eismeerbilder das Markenzeichen von Thomas Ruff. Und ihn hatte das Museum eingeladen. Damit er mit seinen Fotoarbeiten in der „Oberen Sammlung“ interveniere und neue Blicke eröffne auf die Kunst nach 1945 – auf Giacometti, Bacon, Kiefer oder Richter.

Dass der Gast diesen Ikonen des 20. Jahrhunderts gewachsen sein würde, war zu erwarten. Ruff, Jahrgang 1958, gebürtiger Schwarzwälder, gehört heute zu den international erfolgreichsten Fotokünstlern. Sammler zahlen sechsstellige Dollarbeträge, wenn seine Arbeiten unter den Hammer kommen. Bekannt wurde der ehemalige Becher-Schüler mit seinen analytisch-neutral fotografierten „Porträts“ und mit seinen „Nudes“. Mit diesen Internet-Pornobildern, die er am Computer auf unscharfe Großformate hochrechnete, erweiterte er 1999 die Grenzen der Fotografie. In Hannover sind nun Bilder aus zehn Werkgruppen des in Düsseldorf lebenden Künstlers zu sehen. „Thomas Ruff. Das „Sprengelprojekt“ ist fast eine kleine Retrospektive.

Auf dem Hochseil des Kunstzirkus ist nicht viel Platz: Event-Ausstellungen und trendige Messen mit immer jüngeren Künstlerstars geben weltweit den Ton an. Da müssen sich viele Museen etwas einfallen lassen, um ihre nicht immer taufrischen Sammlungen aufmerksamkeitswirksam zu präsentieren. Neu ist die Idee, Werke von Gastkünstlern zwischen die eigenen Bestände zu mischen, auch im Sprengel Museum nicht. Schon 2004 durfte Stephan Balkenhol an verschiedenen Stellen des Hauses Bilder für eigene Arbeiten beiseite schieben. Diesmal hatte Ruff gleich neun leere Ausstellungsräume zur kuratorischen Verfügung. Seine Sparringspartner durfte er sich selbst aus den Beständen aussuchen, in Abstimmung mit den Museumsverantwortlichen. Es soll viel umhergerückt worden sein.

Leider ist das Rücken nicht in allen Fällen geglückt. Streckenweise wirkt die Gegenüberstellung arg platt. Frei nach dem Motto „Achtung Kriegsgebiet“ hängt Ruffs pixeliges Bild einer Rauchwolke neben einem Gemälde von Anselm Kiefer. Auch das Rendezvous von Ernst Wilhelm Nays abstrakten Kompositionen mit Ruffs „Substraten“ im ersten Ausstellungsraum weckt keine Leidenschaft. Für die „Substrat“-Serie scannt der Düsseldorfer seit 2001 Manga-Comics ein und jagt sie durch den Pixelhäcksler des Computers. Übrig bleiben psychedelisch wirkende Farbverschlingungen, die im Kontext der Ausstellung wie harmlose Reproduktionen von Nays knallbunten Ölgemälden wirken. Das Auge registriert die Übereinstimmung der Formen, der Kopf nickt das kuratorische Fingerspiel ab. Warum Ruff die Zweckehe mit Nay eingegangen ist, bleibt unklar. Weil die Arbeiten schick zusammen aussehen? Weil beide den Weg in die Abstraktion gegangen sind?

Man darf bezweifeln, dass Ruff bei den „Substraten“ Nay im Kopf hatte. Dass ihn überhaupt einer der im „Sprengelprojekt“ vertretenen Künstler beeinflusst hat. Vielleicht hätte Ruff doch ein paar Fotografen in seine Ausstellung integrieren sollen. So bietet die Schau dem Besucher nur zwei Gewinnoptionen: Ruff-Puristen nehmen die Veranstaltung als Solo-Show, erfreuen sich vielleicht einmal mehr an den zarten „Interieurs“, die in einem separaten Raum ungestört ihren 50er-Jahre-Heimatgeruch ausdünsten. Alle anderen Besucher vergessen jegliche kunsthistorische Einordnung und warten darauf, dass sich die einzelnen künstlerischen Positionen in Ruffs Versuchsanordnung zu überraschenden Erlebnissen amalgamieren.

Zum Glück – und das spricht absolut für das „Sprengelprojekt“ – passiert das in der Ausstellung häufig. Vor allem dann, wenn sich Ruff ironische Seitenhiebe auf die Kollegen nicht verkneifen kann. So hängt er ein „Jpeg“ neben ein gemaltes Quadrat von Josef Albers – et voilà: Albers Werk sieht plötzlich aus wie ein „Riesenpixel“. Ein anderer Raum wird durch Ruffs „Porträts“ mit einer derart hyperrealistischen Atmosphäre aufgeladen, dass ein von Christo verpackter Bürostuhl nicht mehr wie Kunst wirkt, sondern eher an ein verwaistes Sitzmöbel im Fotostudio erinnert. Man möchte das Tuch vom Stuhl reißen, Platz nehmen und sich als Nächster porträtieren lassen.

Lauert hinter der nüchternen Brille des Analytikers doch der Schalk? Viele von Ruffs Interventionen sind respektlos und witzig. Darüber hinaus sind sie ein eklatanter Missbrauch kuratorischer Macht. Da ist es gut, dass der Düsseldorfer auch mal Infiltrationen der eigenen Werke zulässt. Die sehnsüchtige Giacometti-Figur, die den kaltherzig verpixelten Eismeer-Jpegs einen Touch Romantik zurückgibt, ist ein Beispiel. Ein weiteres bietet Gerhard Richter, der sich gegen die „Nudes“ behaupten darf. Richters expressivstes Gemälde in der Schau ähnelt in der Linienführung einem von Ruffs Pornobildern. Wer Richter und Ruff vergleicht, bekommt den Eindruck, als hätte jener eben die sexuelle Gefühlsexplosion gemalt, die dieser mit seiner Unschärfe aus dem „Nude“ getilgt hat.

Am Ende rächt sich Ruff, indem er neben Richters Träumer in rot schimmernder Abendlandschaft die passende Traumvision hängt: eine unscharfe Nackte mit ähnlich rot schimmerndem Haar. So schenkt Ruff Richter Ironie, Richter verleiht Ruff Pathos. Die Ausstellung behauptet nicht, dass der Mittelweg das Ideal wäre. Sie betont eher die Grundverschiedenheit der Künstlerpersönlichkeiten.

Bis 1. 4., Sprengel Museum Hannover