: Berlin rechnet sich reich und sexy
SPD und PDS finden überraschend neue Geldquellen. So wollen sie in der Koalition soziale Einschnitte vermeiden
BERLIN taz ■ Klaus Wowereit ist ein guter Entertainer. Je nach Publikumsbedarf gibt Berlins Regierender Bürgermeister den harten Sanierer oder den Beschützer der sozial Schwachen. Nur zwei Wochen nach dem vermeintlich katastrophalen Scheitern der Verfassungsklage, mit der sich die überschuldete Hauptstadt Bundeshilfen erstreiten wollte, hat der SPD-Politiker eine weitere Rolle gefunden: Zum Abschluss der Koalitionsverhandlungen mit der Linkspartei in der Nacht zum Donnerstag gab sich Wowereit als Finanzgenie. Denn: Rot-Rot verspricht zur Verblüffung der Beobachter bereits für 2007 einen verfassungsgemäßen Landeshaushalt.
Nach vier Wochen inhaltlichen Arbeit am Koalitionsvertrag von SPD und Linkspartei verkündete Wowereit übernächtigt, aber stolz: Dank höherer Einnahmen bei Mehrwert-, Grund- und Grunderwerbsteuer fahre Berlin bereits im laufenden Jahr einen kleinen Überschuss ein. Denn rechne man die 2,5 Milliarden Euro Zinsausgaben ab, komme die Hauptstadt 2006 auf ein Plus von 21 Millionen Euro. Bis 2011 soll der Primärüberschuss sogar auf 1,9 Milliarden Euro wachsen. Die Mehreinnahmen, versprach Wowereit, werde der Senat nutzen, um das Wachsen des Schuldenbergs in Höhe von derzeit 61 Milliarden Euro zu bremsen.
Damit vollzieht der selbst erklärte Sanierungsfall eine erstaunliche Wende. Zwei Wochen nach der Niederlage vor dem Verfassungsgericht wartet Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) mit neuen Rechnungen auf, die der Hauptstadt ein riesiges Plus bei den Steuereinnahmen voraussagen. Das ist durchaus verblüffend, denn seit der Klageeinreichung vor drei Jahren hatte Sarrazin der Hauptstadt die Unregierbarkeit prophezeit – für den Fall, dass sie leer ausgehen sollte. Dies scheint jetzt vergessen. Die neu entdeckten Gelder sollen es den Koalitionären sogar ermöglichen, ihre Wahlversprechen umzusetzen.
In den Koalitionsverhandlungen setzte sich die SPD mit ihrer Forderung nach drei kostenfreien Kita-Jahren bis 2011 durch. Die Linkspartei kann mit der Einführung der sogenannten Gemeinschaftsschule punkten. Die Sozialisten wollen Haupt- und Realschule sowie Gymnasien auflösen. Den Schulen wird das mit freiwilligen Pilotprojekten und 22 Millionen Euro schmackhaft gemacht.
Die Regierungspartner einigten sich, einen heiklen Verhandlungspunkt weitgehend außen vor zu lassen: die Zukunft der 270.000 Wohnungen in Landeshand. Anders als im Verfassungsgerichtsurteil gefordert, will Rot-Rot nur „einzelne, kleine Pakete“ verkaufen. Und auch die sollen laut SPD-Landeschef Michael Müller nicht an Immobilienfonds gehen, sondern an Genossenschaften oder städtische Wohnungsunternehmen.
Als bundesweiter Vorreiter versteht sich Berlins Linkspartei beim Thema Arbeitsmarkt. Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei) hat die Schaffung von 2.500 sozialversicherungspflichtigen Jobs durchgedrückt. Finanzieren will Wolf die Arbeitsplätze, indem er staatliche Arbeitslosengelder und andere Transferleistungen bündelt und aufstockt, um mit ihnen „Arbeit statt Arbeitslosigkeit“ zu finanzieren.
Wowereit verteidigte den erfolglosen Gang des Senats nach Karlsruhe angesichts des überraschenden Geldregens: „Wenn wir die gewünschte Teilentschuldung durch den Bund bekommen hätten, könnten wir bis 2011 bereits Schulden zurückzahlen und hätten deutlich mehr Mittel für Investitionen, so nicht.“
SPD- und Linkspartei-Spitzen wollen den Koalitionsvertrag für die nächsten fünf Jahre am kommenden Montag unterzeichnen. Sonderparteitage müssen das Papier Mitte November absegnen, aber das ist eine Formsache. Beide Parteien haben in den Verhandlungen ihre wichtigsten Ziele durchgesetzt. Jetzt müssen sich nur noch die Rechnungen des Finanzsenators als richtig erweisen. Der Schuldenberg allerdings wird so oder so weiter wachsen. MATTHIAS LOHRE