piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Schuld des Gerichts

JUSTIZ Die Ärztin Mechthild B. beging Suizid, nachdem sie jahrelang unter Anklage stand. Gleichzeitig verstößt Deutschland wegen zu langer Gerichtsverfahren regelmäßig gegen die europäische Menschenrechtskonvention

Der Fall B.

Der Prozess sorgte für Aufsehen:

■ Renommierte Gutachter vertraten gegensätzliche Positionen.

■ Befangenheitsanträge gegen Gutachter stellten die Verteidiger.

■ Einen Freispruch forderten Patienten und Kollegen auf Demos.

■ Nachgeschoben wurde eine Anklage von der Staatsanwaltschaft.

■ Ein Richter erkrankt – der erste Prozess platzt.

■ Eine Zwischenbilanz der Richter, laut der plötzlich eine Verurteilung wegen Mordes möglich wurde.

VON JOHANN LAUX

Am Ende eines fast achtjährigen Strafprozesses gab es kein Urteil zu verkünden, sondern nur den Tod der Angeklagten zu vermelden. Die wegen Totschlags in 13 Fällen angeklagte Krebsärztin Mechthild B. hatte sich Ende Januar nach einer öffentlichen Zwischenbilanz des Vorsitzenden Richters umgebracht. In dem von vielen Medien begleiteten Prozess wurde ihr vorgeworfen, durch die Gabe von Schmerzmitteln ihre Patienten getötet zu haben. „In der extremen Dauer des Verfahrens hat meine Mandantin die physische und psychische Grenze ihrer Belastbarkeit erreicht“, sagt rückblickend ihr Verteidiger Matthias Waldraff.

Es gibt Stimmen in der Politik, die nun nicht mehr nach der Schuld von Frau B. am Tod ihrer Patienten, sondern nach der Schuld der Justiz am Tod der Ärztin fragen. „Es ist schlicht menschenunwürdig, über einen so langen Zeitraum öffentlich verdächtigt, begutachtet und mit Verfahren überzogen zu werden“, sagte der ehemalige Präsident des niedersächsischen Landtages, Jürgen Gansäuer (CDU) in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Der niedersächsische Justizminister Bernd Busemann (CDU) sagte derselben Zeitung, dass Frau B. kein Opfer der Justiz sei, räumte aber „bedauerliche Verzögerungsphasen“ im Prozess ein.

Es gehört gerade zu den scheinbaren Widersprüchen eines fairen Verfahrens, dass die Verteidigung regelmäßig das Verfahren für den Angeklagten verlängert, in dem sie ihre Verfahrensrechte nutzt. Rechtsanwalt Waldraff teilt dennoch die Einschätzung des Politikers Gansäuer: Dadurch, dass das Gericht die Anklage zunächst zwei Jahre habe ruhen lassen, dem Gutachter der Staatsanwaltschaft über fünf Jahre Bearbeitungszeit gelassen wurde und es zudem versäumt wurde, einen Ersatzrichter zu bestellen, habe das Landgericht Hannover gegen das Beschleunigungsgebot im Grundgesetz und gegen europäische Menschenrechte verstoßen.

In der Tat tut sich Deutschland schwer mit dem in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Recht auf ein faires Verfahren. In seiner Rechtsprechung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg immer wieder festgestellt, dass die Dauer gerichtlicher Verfahren in Deutschland ein strukturelles Problem ist. Richtig deutlich wurden die Straßburger Richter im letzten Jahr, als sie „ein so gut wie vollkommenes Widerstreben“ Deutschlands attestierten, einen Rechtsbehelf gegen überlange Verfahren einzuführen. Einen entsprechenden Gesetzentwurf hat die Bundesregierung inzwischen vorgelegt. Er sieht finanzielle Kompensationen für die Geschädigten vor.

Die Straßburger Rechtsprechung betrifft oft genug Zivilrechtsfälle und nicht allein Strafverfahren. Ob eine Verfahrensdauer angemessen ist, hängt immer von den Umständen des Einzelfalles ab. Da der Fall B. nicht in Straßburg verhandelt wurde, kann über einen Konventionsverstoß allenfalls spekuliert werden. Das Spannungsfeld, dass sich in Verfahren wie im Fall B. ergibt, beschreibt Florian Jeßberger, Strafrechtsprofessor an der Uni Hamburg: „Qualitative Ansprüche an eine faire Strafjustiz, etwa in der Beweisaufnahme, haben ihren Preis, der sich in der Verfahrensdauer niederschlägt. Gleichzeitig ist es eine extreme Belastung, einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt zu sein.“

Verteidiger Waldraff begrüßt jede Möglichkeit, Druck auf die Gerichte auszuüben, schneller zu entscheiden. Ob der Suizid von B. verhinderbar gewesen wäre, vermag er nicht zu sagen.