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Archiv-Artikel

Fliegende, Erlöste

Fast wie im Zirkus: Und hepp!, die nächste hübsche Tänzerin verbrennt ihre Papierblumen. „Rough Cut“ von Pina Bausch bei den Berliner Festspielen

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Im Traum, so erzählt ein Mann, habe er einen riesigen Kuchenteig kneten müssen, und dabei plagte ihn ständig das Gefühl, etwas vergessen zu haben. Auf der Bühne knetet er bei diesen Sätzen dicke Steppdecken; die anderen Tänzer des Pina-Bausch-Ensembles schauen ihm dabei zu. Bis sie ihn aus seinem rastlosen Unglück retten: Sie heben ihn hoch, und da fliegt er nun, von ihnen gestützt, in der Haltung eines Barockengels durch die Luft und auf ein Kopfkissen zu, wo er endlich Schlaf findet.

Solche Bilder von Träumenden und Fliegenden, Gequälten und Erlösten gibt es wieder viele in „Rough Cut“, einem der jüngeren Stücke, die Pina Bausch und ihr Wuppertaler Ensemble Jahr für Jahr herausbringen. „Rough Cut“ ist zurzeit als Gastspiel im Haus der Berliner Festspiele zu sehen, seit Monaten ausverkauft, wie immer, wenn Pina Bausch kommt. Daran ändert auch nichts, dass das Stück ob der vielen Selbstzitate als eines ihrer schwächeren gilt.

Nur sehr selten vergehen knapp drei Stunden mit Bildern, die man schon ein wenig kennt, so leicht und schnell wie hier. „Rough Cut“ (Rohschnitt) hat über lange Strecken fast die Dramaturgie eines Zirkus, der übergangslos Attraktion nach Attraktion rauspowert. Nicht nur, weil die Tänzer auch als Tiere kommen, als verliebte Vierbeiner, die mit ihrem Herrchen und dem Hund von gegenüber flirten. Nicht nur, weil halb clowneske Szenen den Hexen- und Nixentänzen der schönen Tänzerinnen folgen. Sondern auch, weil ein ständiger Wechsel der Gefühlslagen wie eine Nummernrevue an uns vorbeirauscht, der das große Pathos, die starke Expression von Sehnsucht, Verlangen und Traurigkeit ebenso wenig scheut wie exotische Schönheit, erotische Wildheit und andere Klischees des verlockend Weiblichen.

Wäre man nicht bei Pina Bausch, deren Tanztheatererfindungen vor ungefähr 30 Jahren einen Stein ins Rollen brachten, der den Bildern von Männlichkeit und Weiblichkeit auf der Bühne ziemlich viele Brüche und ein großes Vermögen, mit den geschlechtskonstituierenden Gesten zu spielen, eingetragen hat, wäre man doch ein wenig empört über ein so unbefangenes Spiel mit den schönen Körpern der Tänzerinnen und ihrer Hautfarben; schließlich kommen sie aus Korea, Brasilien, Indonesien, Italien und von anderswo. Aber die inzwischen 66-jährige Choreografin darf das alles. Man hält es für eine Gelassenheit, für die alte Debatten einfach nicht mehr wichtig sind. Nicht zuletzt entspringt die nummernhafte Struktur des Stückes einer von Pina Bausch lebenslang glaubhaft verkörperten Demut vor ihren Tänzerinnen und Tänzern, von denen jeder im Solo einmal den Thron besteigen darf.

Wenn es dann aber doch zu großen Ensembleszenen kommt und sich erzählerische Miniaturen und virtuose Einzelaktionen eingebunden finden in eine große Welle von Energie, die alles, was bisher geschah, wie Treibgut mit sich reißt, dann scheint doch noch alles gut zu werden mit „Rough Cut“. Alle rennen über die Bühne wie in dringenden, lebensnotwendigen Angelegenheiten, und dazwischen streuen sie, als würden sie das Stück im Zeitraffer noch mal erzählen, beschleunigte Fassungen ihrer vorausgegangenen Szenen. Wie bei einer musikalischen Komposition, die am Ende alle Motive zusammenführt, freut man sich jetzt über Wiederholung und Wiedererkennung.

Pina Bauschs Ensemble ist seit jeher international, ihre Produktionsweise inzwischen auch. Nicht nur für das Goethe-Institut ist sie der Star aus Deutschland, der überallhin eingeladen wird, zu Gastspielen und seit den 80ern eben auch zu Koproduktionen und Arbeitsaufenthalten weltweit. Allein am Diskurs über die Veränderung der Künste unter den Bedingungen eines sich globalisierenden Marktes nimmt sie mit ihren Stücken kaum teil.

Der Arbeit an „Rough Cut“ ging 2004 eine Einladung des Ensembles nach Seoul in Korea voraus. Erkennbare Spuren im Stück hat das kaum hinterlassen, mehr einige hingetuschte Impressionen. Die Bergwand im Bühnenbild zum Beispiel, von der sich auch irgendwann einige Kletterer abseilen, ist mit der Erfahrung verbunden, wie beliebt der Klettersport in Korea ist. Oder das animierend kokette Fächeln der Tänzerinnen mit einem Blatt aus Chinakohl, nachdem sie zuvor einen Tänzer unter diesen Blättern begraben haben. Einmal waschen die Frauen die Männer in einem sehr entspannten Ritual – aber das gehört auch schon zum vertrauten Kosmos der vielen kleinen Liebesdienste, von denen Bauschs Stücke wimmeln. Und in dieser umfassenden Umarmung verlieren eben auch die Recherchereisen und Materialsammlungen ihre Kenntlichkeit.