: Die Zahl der Toten steigt
NAHOST Israels Armee hat eine Bodenoffensive im Gazastreifen begonnen
RAMI ALMEGHARI, DOZENT IN GAZA
AUS JERUSALEM SUSANNE KNAUL
70.000 Soldaten sollen im Gazastreifen geheime Tunnel ausfindig machen und zerstören. Trotz begrenzter Erfolgsaussichten gab Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu in der Nacht zu Freitag grünes Licht für die Bodenoffensive. „Weil es aus der Luft allein nicht möglich ist, die Tunnel zu konfrontieren, tun das jetzt unsere Soldaten am Boden“, erklärte Netanjahu im Anschluss an die außerplanmäßige Kabinettssitzung am Freitag früh. Es gäbe keinen „100-prozentig garantierten Erfolg“, räumte er ein.
Netanjahu wehrte sich nicht zuletzt aus Sorge um die eigenen Soldaten zehn Tage lang gegen die Bodenoffensive, obschon rechte Koalitionspartner darauf gedrängt hatten. Schon gestern gab es den ersten Toten in Uniform, und auch auf palästinensischer Seite steigt die Zahl der Todesopfer – über 20 Palästinenser sollen seit Beginn der Bodenoffensive getötet worden sein, darunter ein fünf Monate altes Baby. Mit jedem zivilen Todesopfer sinkt wiederum die Geduld der internationalen Öffentlichkeit.
Beides ist ein hoher Preis, wenn eine Lösung auf militärischem Weg ohnehin illusorisch ist. Militärexperten rechnen mit Dutzenden geheimen Tunneln, die die islamischen Extremisten zwischen dem Gazastreifen und Israel über die vergangenen Jahre ausheben ließen. Nur eine einzige unterirdische Verbindung würde ausreichen, um Terroristen nach Israel einzuschleusen und um umgekehrt israelische Geiseln in den Gazastreifen zu schmuggeln.
Mitauslöser der Regierungsentscheidung war der Zwischenfall am frühen Donnerstagmorgen. 13 Elitekämpfer der Hamas waren durch einen Tunnel bis nach Israel durchgedrungen, als Soldaten auf sie aufmerksam wurden. Die allesamt schwer bewaffneten Männer rannten zurück zum Tunneleingang, den die Armee unmittelbar bombardierte. Dass die Armee Stunden später mehrere Hauptverkehrsstraßen im Süden Israels sperrte, ließ kurzfristig das Gerücht aufkommen, dass möglicherweise doch ein oder mehrere der Kämpfer unbemerkt entkommen konnten, was sich letztendlich nicht bewahrheitete.
Acht Tunnel sind bis gestern Nachmittag schon entdeckt worden. Die Mission der Soldaten ist dennoch keine einfache. Erfahrungsgemäß werde die Armee „eine Kombination aus systematischer Suche und dem Sammeln von Nachrichtenmaterial“ unternehmen, meint Terrorexperte Dr. Reuven Erlich vom Internationalen Institut für Terrorismusbekämpfung in Herzlia. Die Tunneleingänge können „in privaten Wohnhäusern versteckt sein“, was erneute Haus-zu-Haus-Durchsuchungen zwingend machen würde, oder auch auf freien Feldern. „Die Offensive hat gerade erst begonnen, deshalb haben wir noch kein Bild davon, wo und wie die Armee agiert.“
Erlich, der 30 Jahre lang für den militärischen Abwehrdienst arbeitete, geht davon aus, dass letztendlich nur „überzeugende Abschreckungsmaßnahmen“ gegen die Hamas zu einer Einigung und langfristiger Waffenruhe führen werden.
Die Suche nach den geheimen Tunneln konzentriert sich auf das unmittelbare Grenzgebiet. „Von hier aus können wir die Soldaten nicht sehen“, berichtet Rami Almeghari aus dem Flüchtlingslager Maghazi, südlich der Stadt Gaza. Dennoch sei seit Beginn der Bodenoffensive „eine Eskalation spürbar“. Der 39-Jährige ist Dozent für Journalismus und Englisch an der Islamischen Universität. Seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen kommen er, seine Frau und vier Kinder kaum noch aus dem Haus. „Wir hören die Bombardierungen“, sagt er am Telefon. Jedes Mal, wenn die Luftwaffe kommt, „wackeln bei uns die Wände“. Vor allem die jüngste, gerade zehnjährige Tochter sei „vollkommen verschreckt“. Noch funktioniere die Versorgung insgesamt ganz gut. Nur einzelne Produkte, wie Joghurt oder Wurst, würden nicht mehr in die Läden geliefert, weil die „Händler die Transportfahrten reduzieren“.
Die Behauptung von Israels Armee, dass die Operation nur der Hamas gelte, empfindet Almeghari als haltlos. „Israel greift Zivilisten an. Wir sind die Opfer.“ Die Zahl der Toten auf palästinensischer Seite stieg bis zum Nachmittag auf 260 seit Beginn der Luftangriffe. „Die Leute sind irritiert und erschöpft“, sagt der Palästinenser. Vorläufig werde sich niemand gegen die Hamas stellen, glaubt er. „Der Friedensprozess ist gescheitert. Es musste zu neuem Widerstand kommen.“
Die Hamas braucht kostbares Baumaterial für die geheimen Tunnel, die rund 20 Meter unter der Erde liegen und oft Hunderte Meter lang sind. Tausende Tonnen von Beton, die offiziell in den Gazastreifen geliefert werden, damit dort gemeinnützige Einrichtungen gebaut werden, fließen in die unterirdischen Gänge. „Wir wissen nicht, wie viele es sind“, sagt Gadi Schamni, ehemals Kommandant der israelischen Armee im Gazastreifen. Selbst wenn die Tunnel ausfindig gemacht werden, sei es nahezu unmöglich, „den gesamten Verlauf auszumachen, um den Tunnel komplett zu zerstören“.
Schamni glaubt nicht, dass ein befriedigender Vertrag mit der Hamas möglich ist, und für eine langfristige Neubesetzung gäbe es in Israel keine Mehrheit. „Die regelmäßigen Invasionen werden andauern“, meint er. „ich hoffe nur, dass diese Runde die Intervalle verlängern wird.“