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Archiv-Artikel

„Jürgen Rüttgers sippt sich bei Rau an“

Nur das Grab am Rhein fehlt für den perfekten Totenkult um den Ex-Landesvater, sagt Kulturhistoriker Olaf Rader

taz: Herr Rader, ein Jahr nach seinem Tod wird Johannes Rau überall gefeiert. Ist das politischer Totenkult?Olaf B. Rader: Im Grunde schon. Nur steht leider dafür der wichtigste Kristallisationspunkt des Gedenkens, das Grab nämlich, am Rhein nicht zur Verfügung, denn das ist ja in Berlin. Wäre es in NRW, würde ich Gedenkzeremonien in größerem Stil am Grab erwarten.

Rau wird auffällig oft von Politikern fast aller Parteien zitiert. Welche Interessen verfolgen Politiker, wenn sie sich auf tote Vorgänger beziehen?Weil Rau als ja geradezu charismatische Figur mit großer integrativer Kraft gilt, mag man an dessen staatspolitische Größe doch gern anknüpfen. Das kann man durch Gräberkulte tun oder auch, in dem man sich ständig seiner Gedanken und Worte bedient. Und das legitimiert das eigene Tun und gibt ihm größere Autorität.

Warum ist es für CDU-Mann Jürgen Rüttgers wichtig, immerzu den SPD-Mann Rau zu zitieren?Sind in der Amtstradition Brüche vorhanden, weil man etwa anderen politischen Parteien angehört oder, wie in der Vormoderne etwa, aus anderen Dynastien stammte, neutralisiert man für alle sichtbar dieses Problem, indem man sich in Worten und Taten an einen Vorgänger „ansippt“, dem die Allgemeinheit als Identifikationsfigur große Sympathien entgegenbringt.

Sie haben über den Totenkult um antike Herrscher wie Alexander der Große bis zu den Staatschefs in der Sowjetunion geforscht. Ist der Personenkult um Tote in einer Diktatur vergleichbar mit dem in einer Demokratie?Bestimmte Vorstellungen des Totengedenkens und auch des Legitimierens an Gräbern ist auch der aufgeklärten Demokratie nicht fremd. Aber das man ein Mausoleum für den geradezu mythischen Staatengründer errichtet, in dem der wie ein Heiliger einbalsamiert zu sehen ist und oben auf diesem Bauwerk steht die Staatsspitze und nimmt Paraden ab, ist schwer vorstellbar. Oder könnten Sie sich ein Adenauer-Mausoleum vorstellen, auf dem Angela Merkel zum Zapfenstreich erscheint?

Lieber nicht. Aber wagen Sie doch mal eine Prognose: Wird der Kult um Rau zunehmen?Mit Sicherheit. Gemeinschaften brauchen zur Identifikation Erinnerungen, die sie von anderen abheben. Und Rau dürfte sich als Erinnerungsfokus einer positiv besetzten Vergangenheit besonders gut eignen; mit oder ohne Grab am Rhein.

INTERVIEW: MARTIN TEIGELER