DER MUNDHARMONIKASPIELER VOM NOLLENDORFPLATZ
: Expressive Freude

VON DIRK KNIPPHALS

WESTWÄRTS, HO!

Der Nollendorfplatz – wo die U2 „kurz vor Schöneberg in den Abgrund fährt“ (nicht ganz orientierungssicher: Element of Crime; wir sind ja schon in Schöneberg) – ist ganz bestimmt keine Schönheit. Die U-Bahn-Linie schneidet ihn mitten durch – was (Google-Wissen) bei der Planung 1902 durchaus erwünscht war, um eine Abtrennung zwischen der besseren Wohngegend zum Tiergarten hin und der schlechteren Wohngegend zum Winterfeldtplatz hin zu schaffen. Das mit der besseren Wohngegend hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder herstellen können, aber die Trennung des Platzes hält bis heute.

Aber manchmal sieht dieser Nollendorfplatz wenigstens nach Großstadt aus: wenn möglicherweise gerade die U-Bahn einfährt, während am Himmel ein, zwei Flugzeuge ihre Kondensstreifen ziehen und die Kreuzung von Autos und Fahrradfahrern bevölkert wird; wenn das Sonnenlicht sich in den Scheiben des Nollendorfturmes spiegelt und bricht; wenn man sich die Fassade des Metropol-Theaters einmal genau ansieht; wenn der Kaisers-Supermarkt wieder erstaunlicherweise bis Mitternacht aufhat (was er außer sonntags immer hat, man selbst aber immer wieder vergisst); wenn in der einen Blickrichtung der Engel auf der Siegessäule anfängt zu funkeln, man ein paar Schritt geht, sich umdreht und dann in der anderen Blickrichtung im Hintergrund der Maaßenstraße die Kirche auf dem Winterfeldtplatz trutzig den Blick abschließt.

Und wenn dann auch noch Horst Holtfreter und seine Mundharmonika einen guten Tag erwischt haben – was gelegentlich vorkommt –, dann wird aus dem Platz, der oft wie eine baulich zusammengewürfelte Durchgangsstation wirkt, eine schöne urbane Kulisse.

Horst Holtfreter ist 54 Jahre alt und ein Obdachloser, der seinen ständigen Aufenthaltsort am südlichen Eingang der U-Bahn-Station aufgeschlagen hat. Meistens hält er sich mit der linken Hand ein kleines Transistorradio ans Ohr und begleitet die aus dem Radio krächzende Musik mit mal mehr, mal weniger gelungenen Mundharmonikatönen. Seit er im schneereichen Februar 2010 einen zwei Meter hohen Iglu vor dem U-Bahn-Eingang baute und mit Tannenbäumen, Tüchern und Flaschen verzierte, ist er hier in der Gegend sehr bekannt. Der Tagesspiegel brachte einige Artikel. Einige Jahre spielte Herr Holtfreter auch mal in Stockholm Mundharmonika. Aus dieser Zeit stammt noch der Song „Good Morning, Herr Horst“ der schwedischen Band Mando Diao. Man hatte sich auf dem Sergels torg, dem zentralen Platz Stockholms, getroffen.

Now I’m bleeding

And I’m freezing

And I’m crying once again

For monday glass.

So heißt es in dem schmissigen Stück, in dem sich die schwedischen Rockjungs in dieses Obdachlosenschicksal einfühlen. Ein monday glass ist das erste Glas Alkohol der Woche. Sozialkitschig ist das Lied schon ein bisschen. Vor allem aber sucht man die expressive Freude an seinem eigenen Mundharmonikaspiel, der Horst Holtfreter sich gern mit energischen Oberkörperbewegungen und einem selbstvergessenen Gesichtsausdruck hingibt, in dem Songtext vergeblich – immerhin findet man auf Youtube einen Clip, in dem er zu dem Stück seine Mundharmonika bearbeitet.

Eine andere Strophe kann man aber gänzlich bestätigen:

So if you see me on the street

Don’t ask me about my passing days

Just slip another coin

And walk away

Es gibt so Tage, an denen man Herrn Holtfreter wirklich nicht ansprechen möchte. Er hat dann etwas Schroffes. Und so hatte ich diese Woche, als ich, während mir beim Zuhören langsam die Zehen einfroren, seinem Spiel einige Minuten lauschte, auch keine Lust, ihn zu fragen, ob denn eine weitere Strophe stimmt:

I once had a love of mine

With a different heart

in another time

I blew that off with pills and alcohol

Aber wahrscheinlich hätte ich ihn das auch nicht gefragt, wenn er eine freundlichere Miene aufgesetzt hätte.