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Archiv-Artikel

Eine sozialistisch entwickelte Persönlichkeit

Karl Gass agitierte in seinen Filmen für den Mauerbau. Er dokumentierte aber auch die Kritik der Werktätigen. Und er moderierte ein didaktisches Quiz. Die DDR war ihm stets das „bessere Deutschland“. Widersprüche lagen für ihn nur im Detail, nie im System. Heute wird der Regisseur 90 Jahre alt

„Wenn ich irgendwohin gesetzt wurde, habe ich versucht, das irgendwie optimal zu machen“ In Aufsätzen und Büchern polemisiert Gass gegen Preußenkult und Militarismus. Von links, wie immer

von Erik Heier

Zwei Szenen, zwei DDR-Filme. Eine Irritation.

Die erste Szene spielt in den 60er-Jahren. Da singt er drauflos, der Werktätige, der sozialistische. „Mackie Messer“-Melodie, holperiges Versmaß. „Ick hab niemals keene Sorjen / Scheiß auf Normen / Scheiß auf Plan / Mir kommt’s nich so uff de Arbeet / uff de Rubel kommt’s mir an.“ Im SED-Politbüro müssen sie geschluckt haben dabei.

Die andere Szene spielt im August 1961. Panzer rollen, Stacheldraht wird verlegt. Klatschendes Volk, gut gelaunter Walter Ulbricht, Kampfgruppenparade. Die DDR hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. Man sieht keine zerrissenen Familien. Keinen Soldaten, der über den Draht setzt, gen Westen. Man sieht nur Willy Brandts konsterniertes Gesicht.

Beide Filme sind herausragend, handwerklich gesehen. Der Agitationsfilm über Westberlin, „Schaut auf diese Stadt“ (1962) und „Feierabend“, die präzise, unheroische Beobachtung im Erdölkombinat Schwedt, dem sogenannten Bau der Jugend.

Man bekommt allein diese beiden Szenen im Kopf schwer zusammen. Dass sie zu einem Regisseur gehören, zu einer Biografie. Einer deutschen Biografie, wie sie wohl nur das 20. Jahrhundert schreiben konnte. Der Biografie des bedeutenden DDR-Dokumentarfilmers Karl Gass. Heute wird er 90 Jahre alt.

Das alles ist Karl Gass. Gebürtiger Mannheimer. Deutscher Rudermeister im Achter 1940. Wehrmachtssoldat. Wirtschaftsredakteur beim Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) in Köln. Rundfunkredakteur in der sowjetischen Besatzungszone. 121 Filmarbeiten. Propagandistischer Scharfmacher. Chronist der Widersprüche im DDR-Arbeitsalltag. Reisedokumentarist, Filmfunktionär. Quiz-Moderator. Initiator von Dokumentarfilmfestivals. Mauerbaubefürworter in den 60er, Mauerabrissbefürworter in den 80er-Jahren.

Und er ist enger Freund von Karl-Eduard von Schnitzler, dem späteren Moderator der TV-Sendung „Der schwarze Kanal“, dem kältesten Krieger im DDR-Fernsehen. Der ist beim NWDR sein erster Chef, beide wechseln bald nach „drüben“. Später wird er für einige von Gass’ berüchtigsten Filme Texte verfassen. Beinahe jeder der Biografiesplitter lädt geradezu ein zu vorschnellen Urteilen über dieses Leben. So einfach ist es nicht.

Ein paar Tage vor seinem 90. Geburtstag sitzt Gass im weinroten Ohrensessel, Zeitungsstapel um sich herum, eine Bücherwand hinter sich. Die kann nur einen Teil seiner 12.000 Bücher aufnehmen, im zweiten Stock seines Hauses in Kleinmachnow südlich von Berlin breitet sich die Bibliothek weiter aus.

Seine leicht schnarrende, klare Stimme verrät das Alter des Körpers nicht. Der kann nicht mehr Schritt halten mit dieser Stimme, auch nicht mit dem scharfen Verstand. Man merkt Gass den Ehrgeiz an, seine Gebrechlichkeit zu kaschieren.

Um ein Schlüsselerlebnis auszumachen, das ihn zum Sozialisten, zum Antimilitaristen, zum Klassenkämpfer werden ließ, muss man bis ans Kriegsende zurückgehen. 1945. Da hat er gerade die Weichseloffensive der Roten Armee überlebt, ist in Schleswig-Holstein in britische Kriegsgefangenschaft geraten. Etwa einen Monat nach der Kapitulation werden plötzlich deutsche Soldaten ausgezeichnet und befördert. „Mit Genehmigung des britischen Oberkommandierenden“, so erzählt es Gass. „Da brach in mir eine Welt zusammen. Das Ganze war ja gerichtet gegen die Sowjetunion.“

Vorher war der Sohn eines Automechanikers unpolitisch. Hinterher ist er es nie mehr. Die DDR war ihm stets das „bessere Deutschland“. Ihre Widersprüche lagen für ihn nur im Detail, nie im System. Das ist das große Manko vieler DDR-Dokfilmer. Dabei wird Gass selbst schon kurz nach seiner Übersiedlung nach Ostberlin beim Berliner Rundfunk gefeuert. Den Grund erfährt er erst Jahrzehnte später: Er hatte die Entlassung des unfähigen Intendanten verlangt.

Erst danach beginnt seine Filmarbeit bei der Defa, der Filmgesellschaft der DDR. Er treibt an, beharrt, streitet, kämpft. 1961 gründet er seine sehr produktive Filmgruppe, die später „Effekt“ heißt. Sie bewahrt sich eine gewisse Autonomie und bleibt zwölf Jahre bestehen. Der spätere Bürgerrechtler Konrad Weiß ist dabei, auch Gass’ zeitweilige Frau Gitta Nickel und Winfried Junge. Den animiert Gass zur legendären Langzeitdokumentation über die Kinder des Oderbruchdorfs Golzow.

„Er hatte immer eigenwillige Ansichten“, sagt Junge. Am 10. Februar, wenn Gass ab 11 Uhr im Filmmuseum Potsdam geehrt wird, wird er einer der Gratulanten sein. Bis heute bewundert Junge Gass’ „Veränderungswillen, seine Ideen und sein ständiges Aufspießen von Widersprüchen“.

Als Karl Gass den hymnisch staatstragenden Arbeiterheroismus erster Werktätigendokumentationen wie „Turbine I“ (1953) herunterschraubt, bekommt er Probleme. Seine realistischen Schwedt-Filme „Feierabend“ (1964) und „Asse“ (1965/66) gehen knapp durch die Zensur, der Brigadier aus „Asse“ wird hinterher abgelöst. Es ist die Zeit, in der Frank Beyers Baustellenspielfilm „Spur der Steine“ (1965) im Giftschrank verschwindet.

Gass bleibt das erspart. Er glaubt, das hätte daran gelegen, dass die Staatsführung und die mächtigen SED-Bezirksfürsten Dokumentarfilme für weniger einflussreich hielten. Dass er einen Befürworter im Politbüro hatte, einen einzigen. Und dass er als Fernsehquizmoderator schlicht zu prominent gewesen wäre.

Das mag ja sein. Vielleicht kam Gass aber auch deshalb davon, weil er sich zwischendurch immer wieder in linientreuen Dokumentationen bewährt hat. „Wenn ich irgendwohin gesetzt wurde“, hat Karl Gass vor drei Jahren im WDR-Hörfunk gesagt, „habe ich versucht, das irgendwie optimal zu machen“.

Von 1964 bis 73 moderiert er den didaktischen Werktätigen-Quiz „Sind Sie sicher?“. Er erreicht Einschaltquoten von mehr als 80 Prozent. Des Öfteren ruft Margot Honecker an. Kandidaten sind häufig Lehrer. Sie ist für die Volksbildungsministerin zuständig. Nach einigen Jahren wird „Sind Sie sicher?“ nicht mehr live gesendet. Die Denkpausen der Bürger müssen gekürzt werden. Eine sozialistisch entwickelte Persönlichkeit hat viel zu gebildet zu sein, um lange grübeln zu müssen.

Gass glaubt, dass die DDR zuallererst am wirtschaftlichen Ausbluten durch die Sowjetunion gescheitert sei. Was sicher nicht falsch ist. Doch muss er sich selbst Mitte der 80er-Jahre eingestehen, dass die führende Rolle der Arbeiterklasse nicht funktioniert. Mit der Einsicht aber zerbröselt die Grundthese seiner Werktätigendokumentationen. Ja die Grundthese des Staates DDR. Gass stellt sich diesem Widerspruch jedoch nicht filmisch, er weicht ihm nur aus. Fortan zieht er sich ganz auf Historienarbeiten zurück.

Das Meisterwerk „Das Jahr 1945“ montiert Karl Gass 40 Jahre nach dem Kriegsende aus zahllosen zuvor nie gesehenen Archivaufnahmen. Der Film erreicht drei Millionen Kinobesucher. „Nationalität: deutsch“ kommt nach der Wende heraus. Ein Dorflehrer, der sich geschmeidig durch Kaiserreich, Nazizeit und DDR-Anfang laviert. Es ist sein letzter Film. Man meint, seine Stimme zittern zu hören, als er davon erzählt. Ruhestand liegt ihm nicht.

Jetzt verfasst Gass Aufsätze und Bücher, polemisiert gegen Preußenkult und USA-Militarismus. Von links, wie immer. So ist er sich, wenn man so will, treu geblieben. Eine Autobiografie will er auch noch schreiben. Keine Ruhe, niemals.

Seiner jetzigen Frau Christel hat Karl Gass versprechen müssen, 100 Jahre alt zu werden.