: Kurz vor dem Atomunglück
■ Britischer Staatskonzern verurteilt wegen Schlampigkeit in walisischem Atomkraftwerk. Irland will international klagen
Berlin (taz) – Ein britisches Gericht hat den staatlichen Atomstromkonzern Nuclear Electric wegen Schlampigkeit gestern zu einer Geldstrafe von 250.000 Pfund und zur Zahlung der Gerichtskosten von 138.000 Pfund verurteilt. Das nordwalisische Atomkraftwerk Wylfa des Konzerns war nach atemberaubender Fahrlässigkeit der Belegschaft 1993 nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschlittert. Der Störfall kam erst jetzt bei einem Prozeß ans Licht.
Jetzt will auch Irland den britischen Staat vor ein internationales Gericht bringen. Wylfa liegt nur 80 Kilometer vom Großraum Dublin entfernt, wo mehr als eine Million Menschen leben. Beim bisher schwersten britischen Atomunfall in Sellafield, den die britische Regierung fast 30 Jahre lang verschwieg, war die irische Ostküste 1957 stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Dubliner Regierung verlangt Änderungen der internationalen Atomabkommen, um Ländern Mitsprache einzuräumen, die von Atomunfällen in Nachbarstaaten mitbetroffen wären. Der irische Generalstaatsanwaltschaft Dermot Gleeson prüft zur Zeit, ob Großbritannien beim Wylfa-Unfall das Euratom-Sicherheitsabkommen verletzt hat.
1993 war bei der Bestückung des alten Magnox-Reaktors ein Teil des Ladekranes abgebrochen und in den Reaktor gefallen, wodurch das Kühlsystem teilweise blockiert wurde. Statt den Reaktor abzuschalten, öffnete man einfach die Ventile und entließ die radioaktiven Gase in die Umwelt. Das kostete Nuclear Electric beim ersten Verfahren im vergangenen Jahr umgerechnet rund 120.000 Mark. Der Wylfa-Reaktor wurde erst nach neun Stunden abgeschaltet. Großbritanniens oberster Atominspektor Sam Harbison sprach vom „potentiell gefährlichsten Fall“ seiner Amtszeit. Der Staatsanwalt warf der Belegschaft gestern vor, sie habe damals „ihre Gehirne auf Leerlauf geschaltet“. Bei der Gerichtsverhandlung wurde ein Tonband vorgespielt, das kurz nach Eintritt des Störfalls im Kontrollraum des AKW aufgenommen worden war. Die Angestellten amüsierten sich über die Angelegenheit, sie kicherten und machten Witze darüber.
Der Unfall in Wylfa hat erneut heftige Kritik am Privatisierungswahn der britischen Regierung ausgelöst. Zwar sollen Wylfa und acht andere Magnox-Reaktoren im Staatsbesitz bleiben, doch acht modernere Atomkraftwerke sollen für insgesamt drei Milliarden Pfund verscherbelt werden. Der Gewerkschaftsverband hat schon Widerstand dagegen angekündigt. John Edmonds, Chef der Elektrizitätsgewerkschaft, bezeichnete die Regierungspläne als „Rezept für eine Katastrophe“. Wenn kommerzielle Gesichtspunkte schon jetzt Vorrang vor der Sicherheit hätten, könne es nach der Privatisierung nur noch schlimmer werden.
Edmonds Befürchtungen werden durch ein weiteres Verfahren unterstrichen: Am 11. Oktober steht Nuclear Electric erneut vor Gericht, weil 1994 bei einer Inspektion des Magnox-Reaktors Hinkley Point in der Grafschaft Somerset herauskam, daß die Rohrleitungen für radioaktive Gase verrottet waren. Ralf Sotscheck
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen