Spinnennetz der Schicksale

■ Robert Lepage und Ex Machina gastieren mit dem sechsstündigen Jahrhundertepos „The Seven Streams Of The River Ota“ auf Kampnagel

Sieben Ströme, Stränge, Städte. Sieben Leben hat die Katze. So ein kleiner Mensch hat eins, aber mit Glück gehts darin „siebenmal hinunter und achtmal hinauf“ (alte chinesische Weisheit). Jana Capek hatte Glück. Sie überlebt als Kind das Vernichtungslager Theresienstadt, schlägt sich nach dem Krieg in Paris als Sängerin durch, wird Fotografin in New York, sieht ihren Freund Jeffrey in Amsterdam an Aids sterben und erbt sein Haus in Hiroshima. So wird die tschechische Jüdin ihre zweite Lebenshälfte in der Stadt verbringen, in der die Erzählstränge des Epos, sowie die „sieben Ströme des Flusses Ota“ zusammenfließen.

Das Stück beginnt in diesem Haus im Jahre 1945. Luke O'Connor, der Vater von Jeffrey, Fotograf der amerikanischen Armee, besucht Hiroshima, um eine Fotoreportage zu machen. Er lernt die Japanerin Nozomi kennen, deren Gesicht bei der Explosion zerstört wurde. In ihrem Haus sind keine Spiegel, sie hat sich nie nach dem Krankenhausaufenthalt gesehen und möchte nun, daß er sie fotografiert. Eine Beziehung beginnt und mit ihr eine Reise, die sieben Charaktere durch drei Kontinente und fünf Jahrzehnte ins Heute führt.

Sieben Teile soll das Epos einmal haben; fünf zeigt die im kanadischen Quebec beheimatete Kompagnie Ex Machina um den Regisseur, Schauspieler und Bühnenbildner Robert Lepage auf Kampnagel. Wer sich dieser Reisegruppe anvertraut, erlebt fast 6 Stunden Theater (mit 4 Pausen) und sieht, was im Freien Theater immer seltener wird: Erzähltes Leben von Menschen, deren Geschichten unterhalten, rühren, nerven. Erlebt mit diesen die Geschichte des 20. Jahrhunderts als ein Spinnennetz, das die Schicksale gefangenhält und begreift, wie das Theater als Erinnerungsraum diese befreit.

Den Eindruck von gleichzeitiger Komplexität und Leichtigkeit erreichen Robert Lepage und seine Compagnie einerseits mit einer sehr filmischen Dramaturgie, mit Rückblenden, Schnitten und Sprüngen; Geschichten werden gespiegelt, Motive verdoppelt und wiederholt. Andererseits rührt der Abend durch seine urtheatralische Unmittelbarkeit, durch die Dichte, die Schauspieler herbeizaubern, die ihre Charaktere im langen, kollektiven Arbeitsprozeß selber erfunden haben, und aus tiefer Kenntnis mit großer Leichtigkeit spielen.

Seit seinem China-Epos Trilogie des Drachens, das beim Theater der Welt 1988 auch in Hamburg gastierte, wird Robert Lepage als „Theatermagier“ gerühmt. The Seven Streams Of The River Ota ist vielleicht nicht so feinnervig, nicht ganz so atemberaubende Zauberei, aber kleine Wunder wärmen auch ganz schön. Barbara Riecke

Kampnagel, k6, 5.-10.12.