: Das Gefühl der Überwältigung
■ Über die berstende, laute, schreiende Stadt Saigon: Cyclo von Tran Anh Hung
Als 1975 Südvietnam kapitulierte, flohen viele Familien in den Westen, darunter eine mit ihrem zwölfjährigen Sohn nach Paris. Der Sohn hieß Tran Anh Hung und muß sich irgendwann entschieden haben, mit Hilfe von Filmen in seine frühere Heimat zurückzukehren. Gerade 30 Jahre alt, 18 Jahre nach der Flucht, drehte er sein Debüt, Der Duft der grünen Papaya, entstanden in einem Studio in Frankreich, spielend im Saigon der 50er Jahre, eine Sehnsuchtsadresse. Sein zweiter Film Cyclo spielt nun in der Gegenwart, gedreht auf den Straßen von Ho-Chi-Minh-Stadt, vormals Saigon, ihren Rhythmus, ihre Wirklichkeit, ihre Bilder einfangend. Vietnam, mon amour.
Ist Cyclo also das Dokument einer Heimkehr? Jedenfalls keiner heimeligen. Der Film spricht die Sprache einer Konfrontation, und zwar einer heftigen. Als Tran Anh Hung 1991 zum erstenmal wieder nach Saigon zurückkehrte, so erzählte er in einem Interview, überwältigte ihn ein „geradezu körperliches Gefühl“, eine intensive Erschöpfung, „hervorgerufen vom Rhythmus der Stadt“. Daß Tran Anh Hung die Rückkehr als großes Abenteuer erlebte, das ist in fast jedem Bild des Films spürbar.
Lange Zeit ist Cyclo nichts anderes als ein Porträt Saigons, erzählt anhand der Geschichte eines einfachen „Cyclo“, eines Fahrradtaxifahrers. Aber auch schon die neorealistischen Anfangssequenzen handeln stets auch von etwas anderem: von dem Gefühl der Überwältigung von dieser berstenden, lauten, schreienden Stadt, von dem Kulturschock, der Tran Anh Hung getroffen haben muß und der die Wahrnehmungen auf höchste Intensitäten und in einen nervösen Rhythmus treibt.
Ein Fahrradtaxifahrer fährt durch Saigon, verfolgt von einer manchmal dokumentarischen, oft nervös suchenden, sich von der Hektik des Verkehrs anstecken lassenden Kamera. Und was das für eine Hektik ist! Über eine Gangsterhandlung kippt Cyclo dann mehr und mehr in einen Symbolismus, bis die Bilder zeitweise nur noch von Farben handeln. Und am Ende legen die Bilder Feuer.
Die gezeigte Wirklichkeit ist wie die Symbolik, auf der viele Bilder fußen, asiatisch. Aber westlich sind die filmästhetischen Traditionen, auf die Tran Anh Hung sich bezieht. Viele Bezüge lassen sich herstellen: In der ersten halben Stunden steckt der italienische Neorealismus. Vom Aufbau des Films her kann man sich an Michael Ciminos Vietnamfilm The Deer Hunter erinnert fühlen, auch er fing realistisch an und kippte in Surreales, in den Wahnsinn ab. In den Drogenszenen versucht Tran Anh Hung nichts Geringeres, als die berühmte Anfangssequenz von Apocalypse Now zu überbieten: Auch die Kamera gerät in einen Rausch. Und die frühen Scorsese-Filme fallen einem ein (Travis Bickle war schließlich auch ein Taxifahrer): Saigon, mean streets.
Da Cyclo im überregionalen Teil dieser Zeitung ein ärgerlicher, allzu billiger Verriß widerfuhr (siehe taz vom 20. November), sei es hier noch einmal ausdrücklich formuliert: Cyclo ist ein maßstäbesprengendes und somit großes Kunstwerk. Dirk Knipphals
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