: Mal zielstrebig, mal voll edler Zurückhaltung: John Eliot Gardiner dirigiert Leos Janácek und Sergej Rachmaninov
Der lange Atem läßt sich John Eliot Gardiner nicht absprechen. Und so gestaltet er die Symphonische Dichtung Taras Bulba von Leos Janácek als Epos, dessen hehrer Ausgang früh schwant. Dabei klingt die Geschichte des Kosaken-Hauptmanns gar nicht glücklich: Taras muß seinen desertierten Sohn erschlagen, der zweite wird ihm zu Tode gefoltert, schließlich er selbst hingerichtet. Der slawophile Janácek kannte die Episode aus dem russischen Krieg gegen Polen im frühen 17. Jahrhundert von einer Novelle Gogols.
Als der Tscheche sich des Stoffs annahm, war er bereits ein reifer Komponist im Vollbesitz seiner musikalischen Mittel. Er hatte sich eine völlig eigenständige Tonsprache geschaffen, die durch das tschechische Idiom geprägt ist – eine Musik von unprätentiösem Pathos, reich an Kontrasten der Tempi, des Räumlichen und der Charaktere bis zur Zerrissenheit, die auch das Häßliche kennt. Gardiner bemüht sich um Homogenität. Er läßt den Hörer ausruhen in den lyrischen Teilen fülliger Kantilenen oder zarter Violinsoli und führt ihn sicher durch das Heikle – mit romantischem Rubato und einer Schwäche für den großen Klang des NDR-Sinfonieorchesters. Er weiß, daß die Bedrohungen und Wirrnisse überwunden werden.
Diese Zielstrebigkeit überzeugt am ehesten im dritten Satz mit seinem weiten Handlungsbogen. Gardiner bekommt recht, die Apotheose mit Orgel und Glocken beweist endlich: Alles ist gut. Und doch erscheint diese aufregende Musik weichgezeichnet, ihr Wesen distanziert.
Vielleicht dachte der spitzzüngige Igor Strawinsky an Stücke wie die Symphonic Dances, als er über Sergej Rachmaninov äußerte: „Ich schätze diesen Mann außerordentlich, er hat grandiose Filmmusik geschrieben.“ Das letzte vollendete Werk seines Landsmannes und späteren Hollywood-Nachbarn ist in jeder Hinsicht meisterhaft – von der formalen Ausgewogenheit bis zur kunstvollen Instrumentierung. Und doch erscheinen die drei Tanzsätze bei aller Raffinesse wenig leidenschaftlich. Rachmaninov komponierte sie als Bravourstücke, mit denen Orchester und Dirigent brillieren können. So verfährt auch Gardiner mit ihnen: souverän und mit edler Zurückhaltung. Er versucht sich nicht an überraschenden Deutungen, die auf die Entdeckung verborgener programmatischer Inhalte der ursprünglich als „phantastisch“ bezeichneten Tänze zielen. Die Musik bleibt in der gemessenen, distanzierten Interpretation Gardiners ganz sinnenfreudiges Spiel, elegant reisend zwischen schwungvollem Walzer und californischer Nostalgia.
Hilmar Schulz
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