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Deutscher Zweckoptimismus ist fehl am Platz

■ Laut Statistischem Bundesamt verfehlt Waigel die Stabilitätsziele der Europäischen Währungsunion. Auch Rexrodts Glaube an die Konjunktur hält den Fakten nicht stand

Wiesbaden/Berlin (dpa/taz) – Das Statistische Bundesamt hat gestern gleich zwei Minister in die Bredouille gebracht. Am härtesten erwischte es Finanzminister Theo Waigel. Der gestrenge Oberaufseher über die Haushaltsdisziplin der europäischen Partner schaffte es selbst nicht, die Stabilitätskriterien für die Europäische Währungsunion einzuhalten. Die Neuverschuldung des Jahres 1995 erreichte 3,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während der Maastricht-Vertrag nur maximal drei Prozent erlaubt.

Auch Wirtschaftsminister Günter Rexrodt mußte hinnehmen, daß seine zweckoptimistische Ankündigung über die konjunkturelle Entwicklung von der Realität eingeholt wurde. Die Wirtschaft stagniert. Vom dritten auf das vierte Quartal des letzten Jahres hat es so gut wie kein Wachstum mehr gegeben. Insgesamt wuchs das Bruttoinlandsprodukt 1995 nur noch um 1,9 Prozent statt der 2,5 bis drei Prozent, die noch vor einem Jahr prognostiziert wurden. Im Vorjahr hatte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) noch um 2,9 Prozent zugelegt. In Westdeutschland stieg das BIP nur noch um 1,5 Prozent, im Osten der Republik immerhin noch um 6,3 Prozent – nach 8,5 Prozent im Vorjahr. Die neuen Bundesländer tragen jedoch nur mit elf Prozent zur gesamtdeutschen Wirtschaftsleistung bei.

Hatte Rexrodt bis vor sechs Wochen noch ein Wachstum von 2,5 Prozent für 1996 vorausgesagt und danach von zwei Prozent gesprochen, korrigierte er sich gestern auf „voraussichtlich unter zwei Prozent“. Aber, fügte er an, er habe „nie von einer Rezession gesprochen“. Vielmehr werde ein verstärkter Konjunkturaufschwung nur ein bißchen verzögert und gedämpft zustande kommen.

Angesichts der flauen Konjunktur sind auch die Meldungen vom Arbeitsmarkt negativ. Im Jahresdurchschnitt sank die Zahl der Erwerbspersonen um 80.000 oder 0,2 Prozent. Im Westen war der Rückgang mit 0,7 Prozent noch ausgeprägter, während in Ostdeutschland wenigstens ein Plus von 1,8 Prozent zu verzeichnen ist. Ausgeglichen wurde der Abbau von Arbeitsplätzen durch eine höhere Produktivität: im Westen plus 2,2, im Osten plus 4,4 Prozent. Aber immer noch erreicht die Leistung pro Arbeitskraft im Osten nur 54,4 Prozent des Westniveaus.

Trotz mieser Wirtschaftslage geht es nicht allen schlechter. Die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen stiegen mit 8,9 Prozent deutlich stärker als die Arbeitnehmereinkommen mit 3,2 Prozent. Nach Abzug der Lohnsteuer und der Sozialversicherungsbeiträge blieb unter dem Strich gar nur noch ein Lohnzuwachs von 0,4 Prozent. Da ist es ein schwacher Trost, daß sich wenigstens auch die Preissteigerung in Grenzen hielt. Die Inflation lag nur bei 1,8 Prozent. lieb

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