: Die Opfer sind an der Macht, aber Ruanda fürchtet die Täter
Gut zwei Jahre ist es her, daß Hutu-Milizen in Ruanda Hunderttausende von Menschen umbrachten. Heute hält die neue Regierung Zehntausende unter dem Vorwurf der Beteiligung am Völkermord in Haft. Die geschlagenen Hutu verstärken aus Zaire ihre Angriffe. Beginnt bald ein neuer Krieg? ■ Aus Kigali Daniel Stroux
Sie kamen abends um zehn, mit Gewehren, langen Messern und Granaten. Sie waren zu dreißigst. Sie suchten nach einer Familie. Sie schossen in die Luft und trieben so die Bewohner des Dorfes in die Hütten. Dann umzingelten sie eine der Hütten, riefen den Besitzer beim Namen und forderten ihn auf, rauszukommen. 7 Männer, 2 Frauen und 3 Kinder wurden ihre Opfer, als sie in die Hütte einbrachen. Dann plünderten sie. Danach zogen sie ins nächste Dorf. Hier töteten sie 8 Menschen, darunter 6 Kinder. Der gleiche Alptraum im übernächsten Dorf, wo sich die Todesbilanz auf 28 Opfer erhöhte.
Fast alle Opfer waren Tutsi, zur Hälfte Überlebende des ruandischen Völkermords von 1994. Zehn weitere waren frühere ruandische Flüchtlinge von 1959 und 1962, die nach dem Völkermord wieder nach Ruanda zurückgekehrt waren. Einige der Überlebenden waren Zeugen der Massaker. Sie könnten gegen die Mörder ihrer Verwandten und Freunde aussagen.
Die drei Dörfer liegen im Nordwesten Ruandas, in der Präfektur Gisenye. Diese grenzt an Ost- Zaire, wo zwei Jahre nach dem Völkermord nicht nur über 700.000 Hutu-Flüchtlinge aus Ruanda leben, sondern die ruandische Ex-Armee und die für den Völkermord verantwortlichen Interahamwe-Milizen Unterschlupf gefunden haben. Sie sind es, die nachts über die Grenze kommen und morden.
„Die Milizen setzen den Völkermord fort. Letztes Jahr waren es Sabotageakte an der Infrastruktur, und heute sind ihre Opfer die Überlebenden des Genozids“, sagt Dr. Ndahero, Pressesprecher von General Paul Kagamé, Verteidigungsminister, Vizepräsident und starker Mann von Ruanda. Ndahero ist etwa Mitte dreißig, er gehört zur jungen Führungsgeneration Ruandas. Er berichtet, wie Soldaten der neuen ruandischen Armee über mehrere Tage Interahamwe-Milizen verfolgt hätten. Sie hätten diese gefaßt, doch unter den 43 Toten habe es Zivilisten, Frauen und Kinder gegeben. „Es ist unsere Pflicht, gegen die Infiltrationen der Milizen vorzugehen. Die Situation ist aber sehr schwierig. Immer wieder wird behauptet, daß die Armee gegen Zivilisten vorgeht.“ Doch die Zivilisten seien „ins Kreuzfeuer zwischen der Armee und den Milizen“ geraten. Er räumt ein, daß die Soldaten manchmal überreagierten, sie aber würden bestraft. Tatsächlich sitzen bereits über 1.000 Soldaten, darunter ranghohe Militärs, in Ruanda im Gefängnis.
Die offizielle Version des „ins Kreuzfeuer geraten“ entspricht oft nicht ganz der Realität. Die UN- Menschenrechtsbeobachter in Ruanda, etwa 100 an der Zahl, gehen jedem Fall nach. „Wir versuchen herauszufinden, wer jeweils verantwortlich war“, berichtet der Chef der Menschenrechtler, Ian Martin, ehemaliger amnesty-international-Vorsitzender. 365 Menschen wurden im Juli in Ruanda getötet, 145 durch die Milizen, die restlichen 220 bei Razzien durch die ruandische Armee. Unter den Toten befanden sich nachweislich Soldaten des früheren Hutu-Regimes und Interahamwe-Milizen. Die Mehrheit waren Zivilisten, von welchen viele nicht im „Kreuzfeuer“, sondern wahrscheinlich nach ihrer Verhaftung aus nächster Nähe erschossen wurden. „Seit dem Massaker in Gitarama im vergangenen Oktober, bei dem die Armee über 100 Menschen tötete, haben wir unsere Untersuchungen aufgenommen“, sagt Martin. „Seitdem gab es zwischen 30 bis 60 Tote pro Monat, wobei nicht alle Fälle Menschenrechtsverletzungen, sondern auch legitime Erschießungen waren.“ Glaubt er, daß es einen Befehl gibt, schon mit Verdächtigen kurzen Prozeß zu machen? „Ich glaube nicht an einen Befehl, doch die Armeeführung muß Verantwortung übernehmen.“
In der Regel seien Morde Akte von Individuen auf lokaler Ebene gewesen, meint Martin. Dennoch: „Ruanda befand und befindet sich nach dem Genozid in einer extremen Ausnahmesituation. Es gab lange keine rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen verhaftet werden konnte. Die Regierung mußte erst mal damit fertig werden, wie und wen sie verhaftet und wie sie diejenigen vor Gericht bringt. Eine Folge davon sind heute die überquellenden Gefängnisse. Und das Rechtssystem funktioniert noch nicht. Es hat noch keinen einzigen Prozeß gegeben.“
Seit Mitte August ist Ruanda der Normalisierung einen Schritt näher gekommen. Im vierten Anlauf hat das Parlament ein Gesetz über den Völkermord und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit verabschiedet (siehe Kasten S. 19). Es sieht die Verhängung der Todesstrafe für die Verantwortlichen des Völkermordes vor, nicht aber für die vielen einfachen Menschen, die als Angehörige von Milizen am Morden teilnahmen. Andererseits ist diese Bestimmung wesentlich härter als die des UN-Ruanda-Tribunals, das grundsätzlich keine Todesstrafe aussprechen darf.
„Die Menschen können das Gesetz nicht verstehen, weil das ruandische Strafgesetz bislang bereits für wesentlich kleinere Delikte die Todesstrafe vorsieht“, kritisiert Alfons Mihayo den im Juli zunächst vom Parlament abgelehnten Gesetzentwurf, der jetzt nur mit wenigen Änderungen verabschiedet wurde. Mihayo ist der Vorsitzende eines Interessenverbandes der „rescapés“, der Überlebenden des Völkermords. Seiner Meinung nach hätte man die Bevölkerung in die Debatte einbeziehen sollen. „Wie kann ein Überlebender, dessen ganze Familie umgebracht wurde, es ertragen, daß sich der Mörder womöglich nach einigen Jahren wieder auf freiem Fuß befindet?“
Simeon Revagasorg kam Ende 1994 aus dem burundischen Exil nach Kigali und residiert seitdem im Hotel „Mille Colline“. Er ist der ruandische Chefankläger für den Völkermord – allerdings nur in Kigali: Im Gegensatz zu Exjugoslawien hat der Internationale Gerichtshof im Fall Ruandas zwei Gerichtssitze. Im tansanischen Arusha wird Richard Goldstone über die Drahtzieher Recht sprechen, Revagasorg in Kigali über den anderen. Weil Revagasorg gegen die Todesstrafe ist, begrüßt er, daß in Arusha nur „lebenslang“ gefällt werden kann. „Doch besteht nun eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Rechtsprechung in Arusha und der in Kigali.“ Während die Drahtzieher in Arusha lebenslänglich erhielten, könnten geringere Fälle in Kigali mit dem Tode bestraft werden. Die Schieflage werde dadurch verstärkt. Aber: „Am Völkermord waren so viele Menschen beteiligt – viele wurden zum Töten gezwungen –, daß man tatsächlich andere Maßstäbe anlegen muß“, sagt Revagasorg. „Man kann nicht ein ganzes Volk umbringen.“
„Die Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für die Aussöhnung“, sagt Alphonse-Marie Nkubito, bis zur Regierungsumbildung im vergangenen Herbst Justizminister. Als moderater Hutu, der seit 1990 der Leiter der Menschenrechtsorganisation Ardho (Association Ruandaise de Droits de l'Homme) ist, stand er 1994 ganz oben auf der schwarzen Liste der Völkermörder. Nur durch den Schutz von Freunden in der Armee konnte er damals ins belgische Exil fliehen.
Nkubito bezweifelt, daß die jetzige Regierung wirklich am Aufbau einer neutralen Justiz interessiert ist. „Anwälte und Richter stehen unter erheblichem Druck. Die Regierung will keine objektiven Urteile.“ Darum sei auch sein Vorschlag abgelehnt worden, daß bei jedem Gerichtsverfahren ein ausländischer Richter beisitzen sollte. Nkubito klagt darüber, daß Tutsi sowohl Regierung als auch Verwaltung dominieren. Das entspreche nicht den Bevölkerungsverhältnissen.
Andere, auf die sogenannte „Tutsifizierung“ Ruandas befragt, sagen dagegen, daß es schwer sei, besonders im Rechtsbereich qualifizierte Leute zu finden. Und die früheren Richter befänden sich in der Mehrzahl im Exil.
Eine Dominanz der Tutsi in Ruanda ist auf der politischen Ebene deutlich. Im Prinzip hat die 1994 siegreiche Tutsi-Guerilla „Ruandische Patriotische Front“ (RPF) die Verträge von 1993, die eine Machtteilung zwischen dem damaligen Regime und der RPF vorsahen, respektiert. Jedoch: Von fünf Kabinettsitzen, die der früheren Regierungspartei zugestanden hatten, und die nach dem Genozid zwischen den Oppositionsgruppen aufgeteilt wurden, beanspruchte die RPF drei für sich. Mit ihren anderen Posten hat sie nun im Kabinett eine Sperrminorität. Neu geschaffen wurde auch das Amt des Vizepräsidenten, das RPF-Führer Kagamé einnimmt.
Scharfe Kritik kommt vor allem von ehemaligen Regierungsmitgliedern, die heute in Belgien leben. Die moderaten Hutu, desillusioniert, erheben schwere Vorwürfe gegen die Regierung. Beispielsweise Nkubitos früherer Kollege, der ehemalige Innenminister Seth Sengashonga: Die Armee von Kagamé habe vor und nach der Eroberung Ruandas bis zu 200.000 Hutu umgebracht – ein „zweiter Genozid“. Die Regierung forciere eine „Siegerjustiz“. Nkubito glaubt nicht an diese Vorwürfe. „Die Ruander waren mit Statistik immer schon schlecht.“ Doch muß Nkubito nicht auch vorsichtig sein? Mit der Meinungs- und der Pressefreiheit hat die Regierung noch erhebliche Probleme. Zeitungen erscheinen manchmal nicht. Journalisten werden zuweilen verhaftet.
„Die Regierung macht noch viele Fehler“, meint ein Diplomat. „Es ist auch eine extrem junge Regierung. Kagamé etwa ist 37, andere jünger.“ Auch der Pressesprecher des Internationalen Gerichtshofes, Alain Sigg, meint, Verbrechen in der Größenordnung, wie die Exilopposition sie der RPF- Führung vorwirft, wären nicht nachweisbar. Aber, so Sigg, wenn Beweise gefunden würden, werde sich auch die neue ruandische Führung vor dem Tribunal verantworten müssen.
Die Regierung gerät mit den vielen Toten bei Razzien, seien sie nun „verordnet“ oder Akte von Individuen, in Gefahr, ihren sogenannten „Völkermordbonus“ bei der internationalen Gemeinschaft zu verlieren. Gleichzeitig haben die Infiltrationen aus Zaire durch die 1994 geflohenen ruandischen Hutu-Milizen seit Mai stark zugenommen. Manche fürchten, daß dies ein Vorgeschmack für eine mögliche Invasion sein könnte.
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