Ein Grund zum Betreten dunkler Gegenden

■ Ein Besuch bei Lounge Records, dem jungen Hamburger Label für internationale Tanzmusik. Seine Devise: „Bloß keine Szene! Nie mehr Avantgarde!“

Von der Reeperbahn Abiegen. Finster, finster, finster. An den Stahlwänden vor der Herbertstraße Halt machen. Mies, mies, mies. Vielleicht hilft es, die Treppe in den Keller zu benutzen. Dort nämlich liegt der Lounge Club. Ein verwinkeltes Labyrinth von Sitzflächen, Tanzflächen, Hörflächen.

Was den Raum interessant werden läßt, die vielen möglichen Wege von Orten des Redens zu denen des Tanzens nämlich, spiegelt sich im Programm des Clubs. Neben den obligatorischen Auftritten von Gast-DJs werden zunehmend sprech-orientierte Events organisiert. Die Lounge schaffte es, zwei ehemalige Swingkids auf die Bühne zu locken. Die beiden inzwischen schon sehr alten Herren präsentierten ihre Kellerräume füllende Swing- und Jazz-Sammlung und steigerten sich in einen Anekdotenrausch. Wie spaßig es doch damals gewesen sei, den Nazis die eigene Dissidenz mittels eines Plattenspielers um die Ohren zu hauen! Um wie vieles man damals besser als die Feinde gekleidet gewesen sei! Naja: Goldene Zeiten jedenfalls, in denen man noch Teil einer Jugendbewegung sein konnte.

Lounge dagegen will nicht Teil einer Bewegung sein, zumindest nicht auf ein festes Ziel hinsteuern. Auch das vom dance craze DJ-Team, das den Club betreibt, im letzten Frühjahr gegründete Label Lounge Records will das nicht. Zumindest möchten Helmut Heuer, Pete Riviera und Maja Consuelo Sternel auf gar keinen Fall als Avantgarde bezeichnet werden. „Wir wollen keine Trends setzen.“

Das ist aber vielleicht nicht so einfach. Immerhin bewegt jede Veröffentlichung sich in einem Kontext anderer Platten und muß sich Bezüge und Reaktionen auf eben diese Umgebung unterstellen lassen. Tatsächlich läßt die Stärkung des Wortes sich auch in den Lounge-Platten finden und durchaus als Ausdruck des Protestes gegen die Sprachlosigkeit Eurotrash-getriebener Samstagnächte interpretieren.

Nicht umsonst hat Lounge Lemn Sissay herausgebracht. Sissay schreibt üblicherweise Dramen, Romane und Gedichte. Zusammen mit Colin Thorpe, der mit Tiempo Remixes anfertigt, produzierte er Flag, ein Soundscape. Idee des Projektes war es, für sich stehen könnende Gedichte mit Musik so zu verknüpfen, wie Bild und Musik im Kino zusammenarbeiten. Der gängige Trend zur „Soundtrackisierung“, dem illusionären Versprechen, daß man sich einen sozusagen eigenen Film zur Musik zurechtbasteln könne, wird hier durchbrochen, indem Sissays Texte als ständige Referenzpunkte angeboten werden. Pink Sly wird die Reihe der Wort-Projekte fortsetzen.

So angenehm die Abneigung gegen einen Avantgarde-Status ist, so unangenehm ist die damit einhergehende Diskurs-Verweigerung. Was Lounge betreibt, geschieht „aus dem Bauch heraus“. Gerade weil Lounge so nette Sitzecken anbietet, erstaunt der Unwillen, in diesen Sitzecken auch über das Gehörte zu sprechen. Und das ist schade, denn die spezifische Mischung obskurer 60er Jahre Latin-Platten mit Electronic Drum'n'Bass eignete sich zum Diskursivieren ebenso wie zum Tanzen.

Matthias Anton heute, Pink Sly, 23 Uhr, Lounge