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Trauerkloß aus Magerquark

Ob Schokolade oder Zimtsterne – wenn die Sonne fehlt, stimmen Süßigkeiten froh / Vorsicht: Zuviel Eiweiß macht depressiv  ■ Von Anja von Steht

Draußen regnet es in Strömen, bis du denkst, der Himmel fällt dir auf den Kopf. Bis eben warst du unglücklich, dafür aber friedlich und schlank. Doch plötzlich ist er da, hämisch grinsend und in Siegerlaune: Der November-Schoko-Hunger, der sich manchmal auch als Glühweindurst oder Zimtsternappetit verkleidet, mit gnadenloser Macht über Gewicht und Hirn. Diesmal hat er besonders leichtes Spiel, denn kampflos gibst du auf und trottest zur nächsten Tankstelle, um dich mit dem Nötigsten, dem momentan Allernötigsten zu versorgen.

Situationen wie diese sind kein Beweis für Zügellosigkeit und Wahn. Essen stillt nicht nur Hunger oder Appetit, es kann je nach Dosis und Zusammensetzung auch wie ein Medikament oder eine Droge wirken. Bestimmte Substanzen in Lebensmitteln lösen Stoffwechselreaktionen im Körper aus, die uns froh machen können. Serotonin heißt der Stoff, aus dem die Träume sind, und unser Gehirn produziert ihn reichlich, wenn wir Kohlenhydrate (Schokolade ist voll davon) zu uns nehmen. Er versetzt uns in einen Zustand der sanften Euphorie – wir fühlen uns zufrieden, ausgeglichen, heiter. Gerade im Winter ist dieser Stoff Mangelware, kein Wunder, daß unser Körper darauf reagiert und nach den Printen, den Dominosteinen und saftigen Lebkuchenherzen dieser Welt schreit.

So weit, so glücklich. Doch was Kohlenhydrate in uns zaubern, können Proteine schnell wieder zunichte machen. Sie senken den Serotoninspiegel wieder. Also Obacht geben: Zuviel Quark macht depressiv! Das sollten sie sich ins Stammbuch schreiben, die armen Gepeinigten, die Jahr für Jahr mit Magermilchjoghurt ihren Winterspeck bekämpfen. Diese Vorhaben sind zum Scheitern verurteilt, und wer sie dennoch verfolgt, braucht sich über die große Januardepression nicht zu wundern. – Ganz düster zeigt sich hier auch eine unheilvolle Verkettung zu der Idee des Karnevals, dem zeitlich verordneten Frohsinn im Frühjahr: Sind Helau und Alaaf etwas anderes als Durchhalteparolen einer Diätgruppe?

Biologische Mechanismen sind aber nur die eine, theoretisch erklärbare Ursache für unsere Gelüste. Essen kann noch viel mehr: Was und wie man ißt, ist mit Erinnerungen verknüpft. Wir sind, was wir essen und schon immer gegessen haben. Bilder und Geschichten der eigenen Biographie sind untrennbar mit dem Akt der Nahrungsaufnahme verwoben. Das Gedächtnis des Geschmacks vergißt nichts, im Gegenteil: Situationen, in denen wir Glück erlebt haben, können heraufbeschworen werden, wenn der Geschmack von damals stimmt. Für den einen kann ein Rundstück, eingetaucht in Milch, zur Chiffre für jene Geborgenheit werden, die er als Kind empfand, wenn er nach Schulschluß am Küchentisch saß. Für die andere sind es Pfannkuchen mit Himbeermarmelade, die die Mutter früher machte, und die sie nun als Mutter für ihr Kind zubereitet. Die Welt ist – wenn auch nur für einen kleinen Moment – wieder in Ordnung, und sie fühlt sich genau so, wie sie sich damals gefühlt hat: glücklich. Viele, die sich so erinnern, sind wohl auf der Suche nach dem einen, dem wahren, definitiven Geschmack, aus dem sich alle anderen Geschmäcker ableiten und den es wiederzufinden und zu bewahren gilt.

Eine solche Geschmackserinnerung mag das unten stehende Rezept sein. Es weckt zwar keine Kindheitserinnerungen, beschert dafür aber ein kurzes Wiedersehen mit der Sonne Kalabriens, einem Haus namens Viletta Gurda und den Gesichtern von lieben Freunden.

Tips zum Weiterlesen:

Andreas Hartmann: Zungenglück und Gaumenqualen, Becksche Reihe;

Gisela Gniech: Essen und Psyche, Springer Verlag;

Daniel Spoerri: Kulinarisches Tagebuch, Edition Nautilus

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