Bosniens Muslime verlieren Brčko

■ Internationales Schiedsgericht klärt den letzten offenen Punkt des Abkommens von Dayton. Muslimische Flüchtlinge fühlen sich von den USA verraten. SFOR-Friedenstruppen in Alarmbereitschaft versetzt

Berlin/Rom (AFP/taz) – Die strategisch wichtige Stadt Brčko im Nordosten Bosniens bleibt nach Angaben von Diplomaten unter Kontrolle der bosnischen Serben. Das meldete gestern die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf das internationale Schiedsgericht. Dieses Gericht unter dem Vorsitz des US-Vermittlers Robert Owen habe eine entsprechende Entscheidung getroffen, zitierte AFP diplomatische Kreise in Rom. Für eine Übergangszeit, deren Dauer nicht bekannt wurde, soll Brčko allerdings unter US- Aufsicht gestellt werden. Offiziell wurde der Schiedsspruch, der eigentlich für heute morgen erwartet worden war, zunächst nicht bestätigt. Das Gericht entschied Diplomaten zufolge weiter, die Rückkehr der kroatischen und muslimischen Flüchtlinge in die Stadt zu ermöglichen.

Diplomaten in Rom werteten die Entscheidung als „potentiell explosiv“. Die aus Brčko vertriebenen Muslime reagierten gestern nachmittag entsetzt auf die Entscheidung in Rom. „Wir wurden von der internationalen Gemeinschaft und besonders von den USA verraten“, sagte der Vorsitzende der Bürgervereinigung von Brčko, Enes Pasalic, in der Stadt Tuzla. Die mehr als 20.000 Muslime, die als Flüchtlinge in der Umgebung Brčkos leben, seien jederzeit bereit, die Stadt mit Gewalt zurückzuerobern. Der Vizepräsident des bosnisch-serbischen Parlaments, Nikola Poplasen, rief trotz der Entscheidung zugunsten der Serben zu „Wachsamkeit“ auf. Zunächst müsse geklärt werden, welche Rolle der internationale Verwalter in Brčko spielen solle.

Serben und Muslime hatten gleichermaßen Anspruch auf die Stadt erhoben, deren Status im Friedensabkommen von Dayton zunächst ausgeklammert worden war. Der Korridor von Brčko entlang der Save, der an seiner engsten Stelle bei Brčko gerade mal fünf Kilomter breit ist, ist für beide Seiten von strategischer Bedeutung. Für die bosnischen Serben ist er die einzige Verbindung zwischen den beiden Teilen der Serbischen Republik, für die Muslime bedeutet der Verkehrsknotenpunkt Brčko das Tor nach Kroatien und Westeuropa.

Mehrmals zuvor hatten Serben und Muslime ihre Truppen in der Gegend zu Manövern aufmarschieren lassen und ihren Anspruch auf die Stadt dokumentiert. „Brčko gehört uns, oder wir greifen wieder zu den Waffen“, hatte die unmißverständliche Botschaft gelautet. Die Gefahr neuer Gefechte in der Region ist somit groß.

Nicht zuletzt deshalb hatten ausländische Beobachter und Angehörige der Friedenstruppen SFOR erwartet, daß das Schiedsgericht die Stadt möglicherweise unter internationale Aufsicht stellen würde. Der Präsident und der Vizepräsident der muslimisch-kroatischen Föderation, der Kroate Kresimir Zubak und der Muslim Ejup Ganic, hatten bereits ihre Zustimmung zu einer internationalen Aufsicht über Brčko als „einen akzeptablen Kompromiß“ signalisiert.

Ganic hatte in einem Zeitungsinterview am Wochenende gesagt, Muslime und Kroaten müßten die Möglichkeit haben, wieder nach Brčko zu ziehen. Dies wäre auch für die Serben gut. Wenn die Stadt unter internationaler Aufsicht stünde, hätten alle Volksgruppen die gleichen Rechte und Pflichten und könnten die internationale Gemeinschaft um Hilfe bitten, sagte Ganic. Um Ausschreitungen als Reaktion auf die Entscheidung zu unterbinden, wurden unterdessen alle Einheiten der SFOR- Friedenstruppen in Alarmbereitschaft versetzt. Siehe auch Seite 8