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„Keine Sonderanstandsregelungen“

■ Der Stein des Anstoßes. Ein Kommentar von Anita Kugler, in dem sie die Frage aufwirft: „Gelten für Juden andere Maßstäbe?“ Der Text erschein am 25. Januar 1997 in der taz

Man stelle sich vor, ein deutscher Politiker würde im deutschen Parlament – von niemandem unterbrochen, von niemandem gerügt – den großen und in Theresienstadt gequälten Rabbiner Leo Baeck als Teil einer jüdischen Schieber- und Spekulantenbande bezeichnen. Es würde einen internationalen Aufschrei geben, der Politiker könnte seinen Hut nehmen, und der Bundeskanzler käme mit dem Entschuldigen gar nicht hinterher. Und das ist gut so, denn solch eine Behauptung wäre nicht nur antisemitisch, sondern auch gelogen und eine Schande für ganz Deutschland obendrein.

Was für die einen gilt, muß aber auch für die anderen gelten. Es ist eine Schande für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, wenn in Berlin, in der mit etwa 10.000 Mitgliedern größten Gemeinde, eine prominente Gemeindevertreterin in einer Gemeindeparlamentssitzung – von niemandem unterbrochen, von niemandem gerügt – den im Konzentrationslager ermordeten Widerstandskämpfer Hans von Dohnanyi als „Ariseur“ bezeichnen darf. Die Beweise für diese Behauptung ist die Repräsentantin, im Hauptberuf Rechtsanwältin, schuldig geblieben. Ihre nachträgliche Erklärung – der Begriff „prominente Ariseurfamilie“ sei ein „juristischer Terminus“ – macht die Sache nur schlimmer, weil die Familie eben nicht „arisiert“ hat.

Jüdische Normalität in Deutschland wird es erst geben, wenn für Juden und Nichtjuden ganz selbstverständlich dieselben moralischen Maßstäbe gelten. Nicht nur vor Gericht sind alle Menschen gleich.

Klaus von Dohnanyi versucht die Geschichte diskret beizulegen. Das ist ehrenhaft. Dennoch ist der Vorfall keine interne Familienangelegenheit zwischen ehemaligen Verfolgten des Naziregimes, sondern ein erschreckendes Beispiel für den Verlust von Sitte und Anstand in einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Es gibt, Gott sei Dank, keine Sonderanstandsregelungen für Mr. X und Mrs. Y, sie für Juden zu fordern wäre antisemitisch. Anders ausgedrückt: Auch Juden haben ein Recht darauf, Verleumder genannt zu werden, wenn sie Verleumder sind.

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