Istanbuler Selbstanzeigen

■ Schriftsteller outen sich in der Türkei öffentlich als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung - sie geben ein Buch heraus! Der türkischen Regierung wird die Affäre unterdessen immer peinlicher

Es war nur eine kleine Gruppe, die sich vor dem Gitter des Staatssicherheitsgerichts in Istanbul versammelt hatte, aber das Interesse der türkischen Medien war trotzdem groß. Vor dem Gericht stand eine Gruppe internationaler Schriftsteller, die sich selbst anzeigen wollten. Die Autoren bezichtigen sich eines Vergehens, für das 180 türkische Schriftsteller, Journalisten und andere Intellektuelle bereits angeklagt wurden: Sie sind Herausgeber eines Buches, in dem Texte nachgedruckt wurden, die zu einem Verfahren gegen den Autor geführt haben oder aber in anderer Weise zensiert wurden.

Vor laufenden Kameras begehrte deshalb Moris Fahri, ein Vertreter des britischen PEN, Einlaß beim Staatssicherheitsgericht. Zwar durfte er nach einigem Hin und Her das Gebäude betreten, die Selbstanzeige wollte der Staatsanwalt jedoch nicht entgegennehmen. Man habe, so wurde Moris Fahri grob beschieden, „keine Zeit für diesen Nonsens“.

Die Aktion vor dem Staatssicherheitsgericht, die am Mittwoch morgen noch einmal wiederholt wurde, ist Teil eines dreitägigen Kongresses zur Unterstützung der Gedankenfreiheit, der in dieser Woche in Istanbul stattfand. Veranstaltet wurde der Kongreß vom türkischen und internationalen PEN in Zusammenarbeit mit der Gruppe „Baris icin Biraraya“ (Gemeinsam für den Frieden) und der Unterstützung von amnesty international. Neunzehn Schriftsteller aus Israel, Palästina, den USA, Kanada, Großbritannien, Skandinavien, Holland, Rußland und Deutschland waren nach Istanbul gekommen, um eine internationale Ausgabe des inkriminierten Buches vorzustellen. Zum Programm der Schriftsteller gehörte der Besuch eines Gerichtsverfahrens, sie diskutierten einen Nachmittag mit Studenten der Istanbuler Universität über die aktuelle Situation in der Türkei, und sie versuchten, zwei inhaftierte Kollegen im Knast aufzusuchen – nicht ganz ohne Erfolg. Zwar weigerte sich die Gefängnisleitung, eine Delegation zu dem prominenten Ismael Besikci vorzulassen, in einem anderen Fall konnten sie jedoch mit dem Kollegen sprechen. Moris Fahri und Joanne Leedom-Ackermann, die Vorsitzende der amerikanischen Sektion von „Writers in Prison“, erläuterten vor der Presse, warum sie sich in der Türkei langfristig einen Erfolg versprechen: „Die Türkei handelt im Unterschied zu anderen Regimen nach Gesetzen. Die Gesetze sind falsch, und man muß sie ändern, aber es ist nicht die reine Willkür.“

Gemeint ist der Artikel 8 des Antiterrorismus-Gesetzes, der jeweils als Grundlage der Anklagen gegen die türkischen Autoren benutzt wurde. Er stellt die Propaganda für terroristische Gruppen unter Strafe. So wurde beispielsweise der wohl bekannteste türkische Romancier Yasar Kemal für einen Artikel über den Krieg in Kurdistan, den er im Spiegel veröffentlichte, als Propagandist für die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) angeklagt. Aus Solidarität mit Yasar Kemal zeigten sich daraufhin etliche andere türkische Autoren bei der Staatssicherheit selbst an, um so das Verfahren ad absurdum zu führen.

Gerade in Zeiten, wo alle Welt nur noch von der islamistischen Gefahr redet, wollen die Angehörigen des PEN daran erinnern, daß die Türkei durchaus noch kein Hort der Demokratie ist. Die internationale Ausgabe des Buches für die Gedankenfreiheit wird auch von prominenten deutschen Autoren mit herausgegeben, darunter Günter Grass, Erich Loest, Johannes Mario Simmel, Siegfried Lenz und Eva Demski. Der PEN will sich jetzt in der Angelegenheit an den Europäischen Gerichtshof wenden. Der türkischen Regierung wird die Affäre unterdessen immer peinlicher. Am liebsten würde sie die ganzen Anklagen stillschweigend verschwinden lassen. Jürgen Gottschlich