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Konzeptionsloses Projekt in geistiger Kessellage

■ Der Architekturkritiker Oliver G. Hamm plädiert gegen das Konzept „Stuttgart 21“: Die Planung paßt weder städtebaulich noch ökologisch zur bestehenden Stadtstruktur

Stuttgart ist mit der Vereinigung etwas ins geographische Abseits geraten. Zudem befindet sich auch die Hauptstadt des einstigen „Musterländles“ mitten in einem tiefgreifenden Strukturwandel: Sie hat in den letzten drei beziehungsweise vier Jahren insgesamt jeweils 20.000 Einwohner und Arbeitsplätze verloren – in erster Linie an die eigene Peripherie. Neue Jobs in der Dienstleistungsbranche, die den Verlust Tausender Arbeitsplätze in der Industrie kompensieren sollen, entstanden in Bürobauten auf den Fildern und entlang den „Lebensadern“ der autophilen Stadt.

Nun eröffnet ein bisher beispielloses Projekt die Chance, durch eine Stärkung der City der Zersiedelung des Stadtrands Einhalt zu gebieten und die Stadt durch einen verkehrstechnischen Befreiungsschlag besser in das europäische Städtenetz einzubinden. Hinter der vermeintlichen Zauberformel „Stuttgart 21“ verbirgt sich ein Vorhaben, wie es Deutschland seit der Gründerzeit vor mehr als hundert Jahren nicht mehr erlebt hat: In den nächsten zwölf bis fünfzehn Jahren will die Stadt ihr Zentrum um 40 Prozent erweitern. Wo sich heute noch ein Gleisbett von Norden bis an die Pforte zur Innenstadt – der 1927 vollendete Kopfbahnhof von Paul Bonatz – ergießt, sollen Wohnungen für 11.000 Bürger, Büros für 24.000 Arbeitsplätze und kulturelle Einrichtungen geschaffen werden.

Eine Aufgabe vergleichbarer Größenordnung hat in den vergangenen Jahren allein die nordfranzösische Stadt Lille bewältigt: Dort war ein neuer Fernbahnhof als Knotenpunkt die Hochgeschwindigkeitsstrecke von London nach Paris und Brüssel der Ausgangspunkt für eine vor den Toren des historischen Zentrums errichtete Büro-, Kongreß- und Einkaufsstadt, die nun ein autonomes Dasein fristet. Im spanischen Sevilla dagegen gerieten ähnlich ambitionierte Pläne ins Stocken. Der anläßlich der Expo 1992 am Rande des Stadtzentrums errichtete Bahnhof für die Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Madrid steht immer noch auf weiter Flur, weil der geplante Stadtteil mangels Nachfrage erst gar nicht errichtet wurde.

Ähnlich wie in Lille und Sevilla dient auch in Stuttgart eine verkehrspolitische Entscheidung als Initialzündung für die hochgesteckten Ziele der Stadterweiterung. Erst durch die geplante Umwandlung des Kopf- in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof mit verminderter, tiefergelegter Gleisfläche würde der Platz frei für ein neues, mehr als 100 Hektar großes Stadtquartier, das vom Schloßgarten, dem Rosensteinpark und der Heilbronner Straße (B 27) eingefaßt würde.

Das bahntechnische Konzept, das den Planungen zugrunde liegt, zielt vor allem auf eine Verbesserung des überregionalen Verkehrs auf dem Abschnitt Karlsruhe–München als Teilstück der Hochgeschwindigkeitsstrecke Paris–Budapest ab; die regionalen Verbindungen würden von den verkürzten Wegstrecken zwar ebenfalls profitieren, eine spätere Kapazitätserweiterung des schienengebundenen Verkehrs wäre wegen der Beschränkung auf acht bis zehn (bislang sechzehn) Gleise aber deutlich eingeschränkt. Ein ganzheitliches Verkehrskonzept mit dem Ziel, einen erheblichen Anteil des heutigen Regional- und Fernverkehrs wie auch des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene zu verlagern, spielte bei den Planungen für „Stuttgart 21“ erst gar keine Rolle.

Die privatisierte Bahn AG ließ Alternativen zur kompletten Tieferlegung sowohl des Bahnhofs wie auch des Gleiskörpers erst gar nicht untersuchen. Und das, obwohl selbst bei einer Beibehaltung der jetzigen oberirdischen Streckenführung erhebliche Flächenpotentiale auf dem Bahnareal für die Stadterweiterung freigegeben werden könnten, wie eine umfassende Studie „Das bessere Stuttgart 21“ des Bündnisses „Umkehr Stuttgart“ nachweist. Darin schlagen eine Reihe von Umwelt-, Naturschutz- und Verkehrsverbänden eine stärker auf die Bedürfnisse des „Integralen Taktfahrplans“ (der die regionalen und überregionalen Verkehre besser miteinander vernetzen soll) abgestimmte Modifizierung des Schienenverkehrs vor, der weitgehend ohne teure und geologisch bedenkliche (Mineralwasservorkommen) Tunnelröhren auskäme.

Die Unfähigkeit – oder Unwilligkeit – der Stadtoberen, den Bahnplanungen eigene Vorstellungen entgegenzusetzen, ist frappierend. An einer konzeptionellen Stadtplanung mangelt es in der baden-württembergischen Landeshauptstadt schon seit langem. Roland Ostertag, Expräsident der Bundesarchitektenkammer, macht dafür die „geo- und topographische, (aber auch) die geistige Kessellage der Stadt“ verantwortlich. Er beklagt „das Fehlen einer geistig-gedanklichen Vorstellung von Stadt“ und behauptet: „Die Ideologie der Rationalität des Verkehrs ist bis heute einziges Leitbild der Stadtplanung Stuttgarts.“ Ohne eigenes Konzept, aber auch ohne denkbare Alternativen geprüft zu haben, verpflichteten sich Stuttgarts Stadtväter vertraglich, ein Projekt mitzutragen, das nur als Ganzes zu verwirklichen ist und wegen seiner hohen Kosten und langen Bauzeit kaum abschätzbare Risiken birgt. Das freiwerdende Gleisbett nördlich des Hauptbahnhofs könnte demnach frühestens im Jahr 2008 bebaut werden, wenn neben dem tiefergelegenen Fernbahnhof und zwei weiteren Bahnhöfen am Flughafen und in Untertürkheim (Wartung) einige neue U- und S-Bahnhöfe sowie vier neue Tunnel – darunter ein 8,3 Kilometer langer vom Hauptbahnhof zum Flughafen – in Betrieb genommen worden sind. Ob und in welchem Umfang die „auf einen Schlag“ freiwerdende Baufläche in zwölf Jahren Abnehmer finden würde, kann heute niemand voraussagen.

Auch die Finanzierung von „Stuttgart 21“ läßt viele Fragen offen: Die veranschlagten 4,9 Milliarden Mark Gesamtkosten werden nicht einmal zur Hälfte durch den Grundstücksverkauf gedeckt. Selbst die prognostizierten 2,2 Milliarden Mark Erlöse für die 56 Hektar Nettobauland erscheinen angesichts eines zugrunde zu legenden Preises von fast 4.000 Mark pro Quadratmeter unerschlossenen Baulands viel zu hoch gegriffen. Trotz bereits vertraglich zugesagter öffentlicher Zuschüsse des Bundes, des Landes und der Kommune in Höhe von mehr als 1,7 Milliarden Mark und trotz kalkulierter höherer Betriebserlöse der Bahn (176 Millionen Mark jährlich) bliebe eine erhebliche Deckungslücke.

Die Landeshauptstadt Stuttgart hat sich verpflichtet, zur „Absicherung der Baukostenrisiken“ bis zu 170 Millionen Mark zusätzlich beizusteuern. Um nicht zahlungspflichtig zu werden, muß sie nun eine möglichst massive Bebauung des Areals durchsetzen – ungeachtet der Ziele einer geordneten Stadtentwicklung und möglicher ökologischer und stadtklimatischer Einschränkungen.

Die Frage, ob das Erscheinungsbild des Stadtzentrums mit seinen Blöcken fortgeführt oder dem Areal ein eigener Charakter gegeben werden soll, ist zwar entschieden. Das Darmstädter Büro Trojan, Trojan + Neu – deren Entwurf auch realisiert werden soll – entwickelt aus dem unregelmäßigen Straßenraster angrenzender Stadtviertel ein kompakt bebautes, dafür in der Höhe äußerst moderates Stadtviertel, das durch Grünschneisen dann doch wieder in einzelne Inseln aufgeteilt wird. Doch ob die im Rahmenkonzept vom Januar 1996 in Aussicht gestellte Differenzierung in unterschiedliche Stadtbezirke mit zum Teil aufgelockerter Bebauung, wie sie aufgrund der Topographie und der vorhandenen Parkflächen dringend geboten wäre, realisierbar sein wird, muß schon aus ökonomischen Gründen bezweifelt werden.

Es steht zu befürchten, daß der durch den 1994 fertiggestellten Verwaltungs-Neubau der Südwest-LB (gleich hinter dem Hauptbahnhof) vorgegebene Maßstab auf große Teile des heutigen Bahngeländes übertragen wird. Dieser „erste Baustein“ des künftigen Stadtquartiers – ein 240 Meter langer, durch Quertrakte und drei Innenhöfe nur unzureichend gegliederter Block – stellt selbst das bislang stadtbildprägende Bahnhofsgebäude von Bonatz ins Abseits. Auch die Bebauung des Mediaforums auf dem ehemaligen Südmilchareal zwischen Haupt- und Nordbahnhof gibt wenig Anlaß zu der Hoffnung, daß hier, in Sichtweite des Unteren Schloßgartens, ein Stück lebendige Stadt entstehen könnte.

Stuttgart muß ein Interesse daran haben, die Potentiale, die das freiwerdende Bahngelände bietet, zu nutzen, um die City attraktiver zu machen und um an die Peripherie verlorene Einwohner und Arbeitsplätze zurückzugewinnen. Doch die Stadt darf dabei nicht die seit Jahren diskutierten Planungen für andere Entwicklungsbereiche, wie die „City Prag“ auf dem Pragsattel und das Bosch- Areal hinter der Liederhalle, zurückstellen oder gar zu Grabe tragen und alles auf die Karte „Stuttgart 21“ setzen. Dies käme einer freiwilligen Selbstaufgabe herkömmlicher Stadtplanung gleich.

Nach dem Krieg ist die baden- württembergische Landeshauptstadt bereits zweimal falschen Szenarien aufgesessen, die sie in ihrer weiteren Entwicklung erheblich behinderten oder nur rudimentär realisiert wurden: die autogerechte Stadt und die Kulturmeile. Von den großen Gesamtplanungen gilt es sich am Ende dieses Jahrhunderts endgültig zu verabschieden – nicht nur in Stuttgart.

Deshalb täte die Schwabenmetropole gut daran, die bestehenden Alternativen von „Umkehr Stuttgart“ ernsthaft zu prüfen: Diese gewährleisten, anders als „Stuttgart 21“, ein stufenweises Vorgehen mit der Option, jederzeit auf sich ändernde Rahmenbedingungen reagieren zu können. Und genau darauf kommt es in der heutigen strategischen Stadtplanung an: auf Flexibilität.

Oliver G. Hamm ist Redakteur der in Berlin erscheinenden Fachzeitschrift „Bauwelt“.

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