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Kanada schaltet jeden 3. Meiler ab

■ Wegen „Verwahrlosung“ muß Nordamerikas größter Stromkonzern sieben seiner AKW-Blöcke abschalten

Berlin (taz) – Jahrelange massive Schlamperei zwingt den größten nordamerikanischen Stromerzeuger, die kanadische Ontario Hydro, ein Drittel ihrer AKW-Blöcke abzuschalten. Die Nuklearabteilung von Hydro, die 19 der 21 Reaktoren Kanadas betreibt, hatte innerhalb der Firma den Status eines „Götzen“, beklagt ein interner Prüfbericht, der jetzt in Toronto vorgestellt wurde. Danach wurden die Kraftwerke beinahe in Grund und Boden gewirtschaftet, die Sicherheit fiel deutlich unter Weltstandard. Hydro-Chef Allan Kupcis nahm bereits vor der Veröffentlichung seinen Hut.

Die Liste der Mängel reicht von „übermäßigen menschlichen Fehlern“ bis hin zu derart nachlässigen Betriebsabläufen, daß es zu radioaktiven Lecks und anderen Störfällen mit einem „Potential zu ernsten Verletzungen der Belegschaft“ kam. Die Fähigkeit des Personals, auf Notfälle zu reagieren, sei „unter Standard“ und „leide unter Vernachlässigung“. Die Notfallsysteme seien „nicht angemessen“. Schäden seien nicht behoben, teilweise sogar vertuscht worden. Die Atommeiler hätten unter der mangelnden Wartung stark gelitten.

„Die Verwahrlosung hält vermutlich schon seit zehn Jahren an“, gesteht Bill Farlinger ein, der Aufsichtsratvorsitzende von Ontario Hydro. „Vermutlich hat sich das in den vergangenen Jahren beschleunigt, doch das Management hat nicht nachgehakt, was da vor sich geht.“ Die Konsequenz: Hydro muß die sieben Kraftwerksblöcke schließen, die am stärksten herabgewirtschaftet sind. Nur so könne die Betreiberfirma die notwendigen Nachrüstungen und Nachschulungen des Personals durchführen. Anderenfalls, so ergab der Bericht, würden im nächsten Jahr durch die nötigen Schulungen 4.000 Angestellte in den AKW fehlen – insgesamt arbeiten 21.000 Menschen bei Ontario Hydro.

Der staatliche Stromversorger Hydro ist Kanadas Nummer eins. Er betreibt seine 19 Atommeiler an drei Standorten. Nun sollen vier Blöcke am AKW Pickering östlich von Toronto und drei Blöcke in Bruce am Huronsee geschlossen werden. Bis 2002 möchte Hydro die vier Blöcke in Pickering wieder am Netz haben. Ob die Reaktoren in Bruce jemals wieder angeschlossen werden, ist fraglich.

Diese maroden Meiler sind zwischen 1971 und 1978 in Betrieb gegangen. Schon seit Jahren kritisieren Umweltschützer diese Anlagen als zu unsicher. Im Dezember 1994 erst gab es einen Störfall in Pickering, bei dem 150 Tonnen radioaktives Kühlwasser ausliefen. April 1996 erzwang ein Defekt im Sicherheitssystem die vorübergehende Abschaltung. „Pickering liegt näher an Toronto als Tschernobyl an Kiew“, sagt Andrew Chrisholm von der kanadischen Umweltorganisation Sierra Club. Für ihn bedeutet der Bericht einen Sieg: Zum erstenmal sei zugegeben worden, daß die Atomenergie überbewertet wird. Kommunalpolitiker und Abgeordnete der Opposition in der Provinzregierung Ontarios, wo die meisten AKW stehen, forderten eine weitere öffentliche Untersuchung von Hydro.

Offenbar hat die Hydro-Leitung das Vertrauen in die Belegschaft komplett verloren: Der Bericht fordert regelmäßige Alkohol- und Drogentests bei den Angestellten, die Mitarbeiter sollten beim Verlassen und Betreten der Anlagen durchsucht werden, um Diebstahl und Sabotage ausschließen zu können. Der Aufsichtsratsvorsitzende kündigte an, daß noch viele Manager gekündigt würden.

Etwa fünf bis acht Milliarden Kanadische Dollar (6,6 bis 10,5 Milliarden Mark) werden Umrüstung, Nachschulung und der Ersatz durch Kohlekraftwerke kosten, schätzen die Gutachter. Ein schwerer Rückschlag, denn der Strommonopolist ist mit 32 Milliarden Kanadischen Dollar verschuldet. Doch auch in Kanada steht der Strommarkt vor der Liberalisierung. Jüngste Umstrukturierungen ließen vermuten, daß der konservative Premier der Provinz Ontario, Mike Harris, Hydro eigentlich bald privatisieren wollte. Matthias Urbach

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