: Tanger blickt gen Norden
Die nördlichste Stadt Marokkos leidet unter wirtschaftlichem Niedergang. Viele Menschen sehen den einzigen Ausweg in der Emigration ■ Aus Tanger Reiner Wandler
Le Coeur de Tanger – Das Herz Tangers – steht außen am Restaurant. Einst war das Lokal auf der Place de la France, gleich neben dem beliebtesten Aussichtspunkt der Stadt, jede Nacht brechend voll. Die ausländischen Gäste wußten die Mischung aus französischer und marokkanischer Küche zu schätzen. Heute bleiben die meisten der sorgsam mit roten Stoffservietten, Blumen und Kerzen geschmückten Tische in den weitläufigen Räumlichkeiten im ersten Stock leer. „Das geht schon Jahren so, die Kundschaft bleibt einfach aus“, sagt der Kellner, während er gelangweilt vom Balkon aus das Treiben auf dem Platz beobachtet.
Die Menschen schieben sich durch die Straßen. Jeder Hauseingang, jede Garageneinfahrt wird zum improvisierten Stand. Orangensaft, Sonnenblumenkerne, Gebäck, einzelne Zigaretten aus offenen Schachteln bekannter amerikanischen Marken, alles wird auf dem Boden feilgeboten. Die Kaffeehäuser am Platz und in den anliegenden Straßen sind brechend voll. Sommer, Urlaubsstimmung, wie überall am Mittelmeer. Warum trotzdem keiner in das Restaurant findet? „Fast alles einheimische Touristen, aus dem Landesinneren oder marokkanische Familien, die in Europa arbeiten und den Sommer hier verbringen. Die haben kein Geld für teure Restaurants“, sagt der Kellner.
Der Einbruch im Geschäft mit Sonne und Strand kam mit dem Golfkrieg. Die exotischeren Reiseziele wie Fez oder Marrakesch erholten sich nach dem Konflikt schnell, nicht so Tanger. Es wurde nicht wieder in die Kataloge aufgenommen. Die Billigflüge machen einen Bogen um die Stadt auf dem Bergrücken zwischen Atlantik und Mittelmeer. Die Hotels sind nur noch zu etwas mehr als einem Viertel ausgebucht. Der durchschnittliche Aufenthalt dauert 1,5 Nächte. Weniger Gäste, weniger Einnahmen und vor allem weniger öffentliche Gelder für den Erhalt der Altstadt – der Medina – mit ihrem herrlichen Ausblick auf die nur 25 Kilometer entfernte spanische Küste. Der Teufelskreis begann: Die Sehenswürdigkeiten Tangers, wie Stadtmauer zum Meer hin und viele der alten Häuser des anliegenden Stadtteil Sidi Bouknadel, drohen seit den Herbstregenfällen im vergangenen Jahr einzustürzen. Die Medina lädt kaum mehr zum Schlendern ein.
Auf die wenigen Ausländer, die nach wie vor – verführt durch Autoren und Maler, die einst die Stadt in ihreren Werken verewigten – Tanger in ihre Marokko-Rundreise mit einbeziehen, machen viel zu viele Jagd. Fremdenführer nennen sich die jungen Männer, die sich den Touristen andienen.
Der 28jährige Hassan ist einer von ihnen. „Brauchen sie irgendwas, ich kann mit allem behilflich sein“, spricht er jeden an, den er für einen mutmaßlichen Kunden hält. Ein Besuch des Marktes oder der alten Stadtfestung Kasbah, eine billige T-Shirt-Näherei mit Hausverkauf bis hin zu kleinen, wenn gewünscht, auch größeren Mengen Marihuana oder Haschisch „allererster Qualität“ – der junge Mann mußte nur einmal passen. „Ein Engländer wollte fünf europäische Pässe, egal aus welchem Land.“ Was Hassan für seine Dienste zugesteckt bekommt, reicht gerade mal, um den elterlichen Haushalt notdürftig zu entlasten. Richtige Arbeit gibt es nicht.
Viele Industriebetriebe haben in den letzten Jahren ihre Tore für immer geschlossen. Die Textilindustrie, von der die Stadt hauptsächlich lebte, steckt in der Krise. Ausländische Investoren ziehen seit dem Mauerfall Osteuropas Näherinnen denen aus Marokko vor. Tanger, einst nach Casablanca Nummer zwei in Sachen Industrieproduktion, ist auf Platz sieben abgerutscht. Auch Hassan saß nach Abschluß seines Mathematikstudiums auf der Straße. In letzter Zeit denkt er immer öfter ans Auswandern. „Doch es gibt keine Visa“, weiß er, „und die Meerenge illegal zu überqueren, dazu fehlt mir der Mut.“
Nicht so Abdel, der sich als Schuhputzer durchschlägt. „Ich war schon einmal drüben“, erzählt der 22jährige stolz. Wie ein Dutzend andere auch hat er seine Holzkiste hier oben am Aussichtspunkt unter einer der Kanonen aufgebaut, die einst die Stadt vor Eindringlingen vom Meer her schützten und heute den Kindern als Klettergerüst dienen.
„Bis Granada bin ich gekommen“, sagt der rotblonde Struwwelkopf und läßt dabei seinen Blick über die Dächer der Stadt hinüber an die europäische Küste schweifen. In einem Lkw, versteckt unter Bergen von Textilien, schlüpfte Abdel erfolgreich durch die Kontrollen der Fähre Tanger – Algeciras. Zwei Wochen dauerte das Abenteuer, dann verhaftete ihn die spanische Guardia civil bei einer Routineüberprüfung und schob ihn nach Casablanca ab. Anstatt in seine Heimatstadt Meknes im Süden des Landes zurückzukehren, kam Abdel erneut nach Tanger.
Jetzt sitzt er wieder hier am Place de la France, träumt von Deutschland und putzt für 50 Pfennig Schuhe. Was er macht, wenn er von Zeit zu Zeit mit männlichen Touristen verschwindet und manchmal erst Stunden später wiederkommt, das wissen nur seine Kumpels, bei denen er dann seine Kiste in Verwahrung gibt – und der ziellos auf dem Platz herumstreichende Herr mittleren Alters, der seinerseits in vier oder fünf Sprachen versucht, „ein Haus voller schöner Frauen“ an den Mann zu bringen.
Wer die Überfahrt organisierte und wieviel sie ihn kostete, darüber schweigt sich Abdel ebenfalls aus. Auf der anderen Seite, in Spanien, sind die Tarife der Schlepperorganisationen bekannt. Der Markt bietet alles. Von der nächtlichen Fahrt im Außenborder über die tückische Meerenge von Gibraltar für rund 1.500 Mark oder die weitaus komfortablere Variante, die Abdel wählte, für einen Tausender mehr, bis hin zur „Pauschalreise“ im Fischereischiff mit festen Zielort, Unterkunft und Schwarzarbeitsplatz irgendwo in der EU für runde 6.000 Mark.
Das sind Vermögen in einem Land, in dem der gesetzliche Mindestlohn 300 Mark beträgt. Deshalb nehmen immer mehr Immigranten die Reise selbst in die Hand. Keine noch so abwegige Möglichkeit wird außer Betracht gelassen. Fahrer europäischer Touristenbuse entdecken immer öfter blinde Passagiere. Bis zu vier Menschen auf einmal verstecken sich zusammengequetscht in den engen, stickigen Räumen zwischen Motor und Karosserie. Daß eine solche Reise tödlich enden kann, davon zeugten Ende August vier Leichen in einen Bewässerungskanal bei Valencia. Todesursache: Kohlenmonoxidvergiftung. Bis heute sind sie nicht identifiziert. Das marokkanische Geld in ihren Taschen war das einzige Indiz über ihre Herkunft.
„Verrückt? Nein die sind nicht verrückt. Was sollen sie denn sonst machen?“ fragt Abdelkader, Besitzer eines Tretbootverleihs in Tanger. Letztes Jahr war sein kleiner Stand, gleich neben dem Hafen, in allen spanischen Fernsehprogrammen zu bewundern. Vier Jugendlichen war die Überfahrt in einem Tretboote gelungen. Die blau-weiße Lackierung, die Plastikstühle – das Gefährt war denen, die Abdelkader für sechs Mark die Stunde an Urlauber vermietet, zum Verwechseln ähnlich. Bis heute besteht er darauf, daß die jungen Männer das Boot nicht bei ihm geliehen, sondern selbst gebaut haben. „Irgendwie müssen die sich ja durchs Leben schlagen“, bezeugt er abermals sein Verständnis für diejenigen, die ihr Glück als Illegale auf der anderen Seite der Meerenge suchen.
„Jetzt geht es auch dem letzten Gewerbe an den Kragen, das noch funktioniert.“ Grinsend zieht er eine Pfeife unter der Theke seiner Bude hervor, „Kiff, Haschisch, Gras.“ Seit die EU Druck auf König Hassan II. ausübt, damit dieser etwas gegen den Marihuanaanbau im Riffgebirge unternimmt, kontrolliert die Polizei schärfer. Bei den vorletzten Gemeinderatswahlen in Tanger wurden erstmals Kandidaten wegen ihrer Verstrickungen mit der Drogenmafia zurückgewiesen. So verunsichert, wandern viele Drogenbarone ab. Und mit ihnen die Gelder, die sie in und um die Stadt in Immobilien und Betriebe investierten. Die 1.000 Jahrestonnen Haschisch, die auf einer Fläche von über 64.000 Hektar geerntet werden, sind die wichtigste Devisenquelle des Landes, noch vor dem, was die 1,2 Millionen Emigranten nach Hause schicken.
Das einzige Geschäft, das in Tanger nach wie vor blüht, ist der Kleinschmuggel mit allem, was es im Lande nicht gibt oder teuer ist: angefangen von einfachsten Konserven über Cornflakes bis hin zu alkoholischen Getränken. Ganze Heerscharen von Kleinhändlern tragen tagtäglich riesige Bündel über die Grenze der spanischen Mittelmeerenklaven Ceuta und Melilla nach Marokko. Tanger ist einer der Punkte, von dem aus die Produkte nach ganz Marokko und selbst nach Schwarzafrika gelangen. Die Grenzsoldaten schauen gegen eine kleine Provision gerne weg. Statt dessen belästigt die Polizei überall im Land diejenigen, die Ware mit verräterischem spanischen Aufdruck anbieten, oder beschlagnahmt bei Straßenkontrollen die Einkäufe derjenigen, die von weither nach Tanger gekommen sind.
Diesen Sommer hat eine ganz neue Mafia das Geschäft mit den beiden spanischen Garnisonsstädten an Marokkos Mittelmeerküste entdeckt. Organisierte Banden schicken Hunderte von Kindern zum Betteln nach Ceuta und Melilla. Wer mit leeren Händen zurückkommt, muß mit harter Bestrafung rechnen. Deserteure werden gnadenlos verfolgt. Die spanische Polizei wurde auf diese Machenschaften aufmerksam, als zwei marokkanische Kinder von ihren Chefs mit einer leicht entflammbaren Flüssigkeit übergossen und mitten in Melilla angesteckt wurden. Nur durch das schnelle Eingreifen von Passanten konnten die beiden Opfer gerettet werden.
„Es ist allerhöchste Zeit, daß die Regierung etwas gegen die Krise tut, die wir hier durchmachen“, sagt Abdellah Chbabou, der Imam der kleinen Moschee im ehemaligen spanischen Viertel Tangers. Der gemäßigte Islamist kandidierte bei den Parlamentswahlen 1994 auf der Liste der Partei für Demokratie und Unabhängigkeit (PDI).
Mit seinen Reden gegen die Vernachlässigung der Stadt durch die Regierung in Rabat und gegen die – seiner Ansicht nach – korrupte Kommunal- und Provinzverwaltung gewann er die Sympathie der Menschen in seinem Wahlkreis und mit über 6.000 Stimmen einen Sitz im Parlament. Die Nummer zwei und die Nummer drei, beides Kandidaten königstreuer Parteien, ließ er mit etwas über 3.000 Stimmen weit hinter sich. Ein Anruf aus Rabat genügte, und ein Wunder geschah. Nah einer Überprüfung tauschte Chbabou die Wählerstimmen mit Platz drei. Man habe beim Abtippen der Liste zunächst die Namen verwechselt, entschuldigte sich die Wahlbehörde. Seither schweigt Chbabou.
Rabat hat bis heute keines der von ihm einst so vehement geforderten Sozialprogramme eingeführt. Die Regierung vertröstet die Menschen in Tanger auf das Jahr 2007. Dann soll der geplante neue Hafen am Atlantik fertig sein und 20.000 Arbeitsplätze bringen. Zusammen mit einem geplanten Eisenbahntunnel, der Europa und Afrika miteinander verbinden soll, würde das wieder Investoren anziehen. Das Ganze hat nur einen Haken. Die Betonröhre wird sechs Milliarden Mark kosten. Noch fehlen die Finanzierungszusagen aus Brüssel und Madrid. Die wollen sich im Zeichen der Sparpolitik lieber Zeit lassen, und Marokkos Staatskassen sind leer. Und ob sich ein solches Projekt für Privatinvestoren rechnet, glaubt kaum jemand.
Trotzdem machen sich viele Hoffnungen auf das Jahrtausendprojekt. „Denn mit einem Tunnel kämen vielleicht auch die Touristen wieder“, sagt der Kellner im Coeur de Tanger. Sein beschwörender Blick vom Balkon auf die Straße hat das Restaurant noch immer nicht gefüllt. Laut hupend schiebt sich eine Autokarawanne über den Platz. Das Menschenmeer verlangsamt einen Moment seine Bewegungen. Alle richten ihren Blick auf die mit Blumen geschmückten Fahrzeuge. Eine Hochzeit, wie in vielen der schwülen Sommernächte. Die belgischen Kennzeichen der größeren Autos verraten: Die Braut stammt aus einer Emigrantenfamilie auf Heimatbesuch. Der Bräutigam hat es geschafft: Der Trauschein ist der letzte legale Weg in das gelobte Land dort auf der anderen Seite gleich hinter Schengen.
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