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Ein Massaker von Polen an Juden

Eine Warschauer Ermittlungskommission legt nach vierjähriger Arbeit jetzt endlich ihre Ergebnisse vor: Das antijüdische Pogrom in Kielce vor 51 Jahren war keine sowjetische Provokation  ■ Aus Warschau Gabriele Lesser

Über vier Jahre zogen sich die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Warschau hin, über 120 Zeugen in Polen und Israel wurden gehört, 24 Aktenordner mit historischen Dokumenten aus Rußland, Polen und Israel zusammengetragen. Der Fall liegt über 50 Jahre zurück: das Pogrom von Kielce. Am 4. Juli 1946 hatten Soldaten, Arbeiter, Hausfrauen und Polizisten das Haus an der Plantystraße 7 gestürmt und 42 Juden ermordet, allesamt Überlebende des Holocaust.

Gestern gab der seit 1993 ermittelnde Staatsanwalt Zbigniew Mielecki nun das Ergebnis bekannt: „Für die Annahme einer Provokation von seiten des sowjetischen Geheimdienstes gibt es keinerlei Beweise.“ Russischen Geheimdokumenten zufolge, die die „Hauptkommission zur Erforschung der Verbrechen gegen die polnische Nation“ bei der Staatsanwaltschaft Warschau erstmals einsehen durfte, meldeten sowjetische Agenten nicht etwa den „erfolgreichen Abschluß“ einer „antijüdischen Provokation in Kielce“ nach Moskau, sondern ein Massaker, begangen von Polen an Juden.

Knapp 50 Jahre lang war das Pogrom in Kielce ein Tabu der polnischen Publizistik und Geschichtsschreibung. Gerüchte über den Hergang und die eigentlichen Urheber wurden je nach politischem Interesse in die Welt gesetzt. Polnische wie sowjetische Ministerien sperrten sämtliche Akten zu „Kielce 1946“.

Drei Tage vor dem Pogrom war in Kielce ein sechsjähriger Junge verschwunden, Henryk Blaszczyk. Die Eltern suchten nach ihm, verständigten die Polizei und den Pfarrer. Schon damals setzte der Vater, so sagten Zeugen aus, das Gerücht in die Welt, daß „die Juden“ den kleinen Henryk entführt hätten. Als der Kleine nach drei Tagen wieder aus dem Nachbardorf zurückkam, wo er bei Bekannten gespielt und übernachtet hatte, habe der Vater ihn vor das Haus der Jüdischen Gemeinde in der Plantystraße 7 geführt und auf einen Juden gezeigt: „War der es?“ Der Junge nickte, angeblich aus Angst vor Schlägen.

Minuten später flogen die ersten Steine. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Mob an, auch Soldaten, Offiziere, polnische Geheimdienstleute. Schüsse fielen. Stunden später stürmten Arbeiter von einer nahegelegenen Fabrik das Haus an der Plantystraße 7.

Erst am späten Nachmittag gelang es Soldaten, dem Morden ein Ende zu bereiten: 36 Juden waren tot, noch einmal so viele schwer verletzt, einige starben Tage später im Krankenhaus. Schon zwei Wochen später verurteilten Richter in einem Schnellverfahren neun von insgesamt zwölf Verdächtigen und ließen sie sofort hinrichten. Die Prozeßakten wurden „streng geheim“ gestempelt und verschwanden für Jahre im Archiv.

Erst nach dem friedlichen Systemwandel in Polen konnte der „Fall Kielce“ erneut aufgerollt werden. Staatsanwalt Zbigniew Mielecki von der „Hauptkommission zur Erforschung der Verbrechen gegen die polnische Nation“ hat seine Ermittlungen nun abgeschlossen. Seiner Ansicht nach sei der Chef des Sicherheitsamtes in Kielce für die Tragödie hauptverantwortlich gewesen, dessen passives Verhalten unverständlich sei. Fünf Agenten des polnischen Geheimdienstes werden sich in nächster Zeit vor einem Gericht verantworten müssen. Es sind die einzigen Täter oder besser gesagt Mitläufer, die noch leben. Der Anklagepunkt wird lauten: unterlassene Hilfeleistung.

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