Das ist eine Band...

...und kein Kurs für Erwachsenenbildung. Station 17, ein Projekt von geistig Behinderten und „Normalo-Musikern“, macht aus Lieblingsmusik neue Musik. Ziel: „Erfolg haben und berühmt werden“  ■ Von Thomas Winkler

Auf den ersten Blick ist es das übliche: neue Platte, eine Tournee zur Platte, man hat sich musikalisch weiterentwickelt, sogar ein wenig experimentiert. Bei Station 17 ist das nicht anders. Selbst Besetzungswechsel hat dieser einmalige Verbund aus geistig behinderten Bewohnern der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg und „Normalo-Musikern“, wie sie Betreuer / Organisator / Musiker Kai Boysen nennt, schon hinter sich. Aber vier Jahre nach derletzten Platte „Genau so“ werden sie natürlich noch immer nicht so wahrgenommen, wie sich die Musiker selbst vor allem sehen. „Das ist eine Band“, sagt Boysen, „kein Kurs für Erwachsenenbildung.“

Zwar „läuft das bei uns auf der Bühne inzwischen wunderbarerweise recht diszipliniert ab“, stellt Boysen fest, zwar muß er in Interviews „Gott sei Dank nicht mehr die Unterschiede zwischen Psychiatrie und geistiger Behinderung erklären“, aber „daß wir was Besonderes an uns haben, ist ja klar“.

Woran vor allem Alfred Hilsberg verzweifelt. Der ist Besitzer von What's So Funny About, dem Label, das „Scheibe“, die neue Platte von Station 17, veröffentlicht. Stadtmagazine und Spex feiern die Band, aber alle anderen Blätter ignorieren das Thema. Beim Rolling Stone, erzählt Hilsberg, war man der Meinung, die Musik sei nicht zu bewerten, deshalb kein Thema, Visions verfügte intern, so was komme nicht ins Heft – obwohl freie Mitarbeiter Beiträge anboten. Bei Fanzines sieht es nicht viel besser aus, „die trauen sich da nicht ran“, vermutet Hilsberg, „manche sagen auch, das ist doch Klamauk“.

So standen die Verkäufe der beiden ersten Platten in keinem Verhältnis zur Medienberichterstattung: Das Debüt von 1991 verkaufte zirka 5.000 Einheiten, „Genau so“ kam auf 3.000. Trotzdem kehrt seit Gründung der Band 1988 der Vorwurf, „wir würden das nur auf Kosten der Behinderten inszenieren“, immer wieder.

Für Boysen stellte sich diese Frage so nie, denn „wir sind Vertreter einer neuen Generation, die mit den alten Verrücktheitsbegriffen nichts mehr zu tun hat“. Hier geht es nicht um jenes ebenso schicke wie mythische Verhältnis zum Wahn, um Künstler, die aufgrund ihrer visionären Eingebung und erlesenen Randständigkeit kurz vorm Irrewerden sind. Hier geht es um Menschen mit Down- Syndrom oder Trisomie 21. Musiker, die, wie andere auch, „Erfolg haben und berühmt werden“ wollen, wie es Willy Müller, der meist die Schlitztrommel bedient, einmal ausgedrückt hat.

In den frühen Neunzigern, als Station 17 ins Leben gerufen wurde, waren die meisten Anfang zwanzig, hatten lange bei ihren Eltern gewohnt und waren deshalb noch nicht durch die Institution Anstalt geprägt. „Sie sind von zu Hause in die Stiftung gezogen, weil sie erwachsen sind“, erzählt Boysen, „und sie sind musikbegeistert, weil sie Jugendliche sind.“ Es gehe für ihn in der Band, sagt Boysen, nicht einmal darum, „was der Verrückte für Musik macht, sondern: Was kann der sogenannte geniale Dilettant, der voller Begeisterung sein Instrument bearbeitet, zusammen mit einem professionellen Musiker auf die Beine stellen?“

Doch da fangen, wie in anderen Bands, die Fragen natürlich an. Wie ist die Zusammenarbeit zwischen den Alsterdorfern und den gelernten Musikern geregelt? Wie entstehen die Stücke? Wer trifft letztendlich die Entscheidungen? Gerade in der Produktionsweise hat sich seit „Genau so“ Entscheidendes geändert. Nach der letzten Tournee 1994 wurde das Projekt erstmals finanziell abgesichert, indem in Alsterdorf der „Bereich Kultur“ geschaffen wurde. Boysen und sein Mitstreiter Thomas Maier wurden von der Stiftung als Kulturreferenten angestellt und organisieren seitdem die Band, aber auch einen gemeinsam von Behinderten und professionellen Schauspielern inszenierten „Sommernachtstraum“ von Shakespeare. Parallel dazu wurden in der Stiftung noch weitere Möglichkeiten geschaffen, Musik zu machen, wenn auch nicht, wie bei Station 17, mit der Perspektive, die Ergebnisse zu veröffentlichen oder gar auf Tour zu gehen.

Doch ausgerechnet der Auslöser dieser Entwicklung schien sich damals eher totzulaufen. Station 17 hatte auf Anregung von Holger Czukay, der einige Stücke der ersten Platte abgemischt hatte, prinzipiell ohne feste Vorgaben gejammt: Die Musiker versuchten – im Studio wie auf der Bühne – die Worte und Laute, Töne und Rhythmen, die von den Behinderten kamen, zu begleiten. Das Prinzip war aus der Not geboren: Die Behinderten schienen weder fähig, einmal erfundene Texte zu repetieren, noch dazu, sich musikalisch in harmonischen Strukturen zu bewegen. Doch dann entstand in Alsterdorf aus der Alltagsroutine der wöchentlichen Proben eine neue Qualität – wenn auch eine für Boysen erst mal nicht sonderlich erfreuliche: „Plötzlich haben sich dann doch einige Sachen verfestigt. Es kamen keine witzigen Ideen und keine neuen Impulse mehr. Man hat monoton das wiederholt, was immer schon da war.“ Einige der Gründungsmitglieder begannen wegzubleiben.

Dann geschah das, was Boysen „Kulturschock“ nennt. Nach einer „prägenden Session“, die im damals üblichen Noise-Free-Jazz- Gewitter geendet hatte, stellte der „Normalo-Musiker“ Boysen fest, das sei jetzt „ziemlich hart gewesen, so wie Ornette Coleman“. Schlitztrommler Willy Müller antwortete daraufhin trocken: „Ja, wie Max Greger.“ Behinderte lesen keine Spezialistenblätter, kaufen sich nicht die neue Chemical Brothers und stöbern auch nicht im Jazz-Plattenfach. Sie hören Radio und sehen vor allem viel fern, was bedeutet, daß ihr musikalisches Universum bestimmt wird durch die Charts, Kindertechno und natürlich Volksmusik. Andererseits sind „sie sehr offen für andere Sachen“, denn stilistische und ideologische Kategorien gibt es für sie nicht.

Also begann Boysen die althergebrachte Routine aufzubrechen und ließ Kassetten mit Lieblingsmusik mitbringen. Schlagzeuger Harre Kühnast, in einem anderen Leben Betreiber eines House- Clubs an der Reeperbahn, begann, seine Turntables aufzubauen. Polkarhythmen wurden hochgepitcht und Loops gebaut, zu denen die Alsterdorfer improvisieren, aber auch einfach nur tanzen konnten. „Es machte wieder Spaß, Musik zu machen“, erzählt Boysen, „auch, weil man als normaler Musiker nicht mehr ständig was machen mußte, sondern auch einfach mal zuhören konnte.“

Die auf den Kopf gestellte Herangehensweise und die neue rhythmische Grundlage haben aber komischerweise an den schlußendlich zu hörenden Ergebnissen gar nicht viel geändert. Für „Scheibe“ wurden die während der Jams aufgenommenen Tracks behutsam entkleidet, über dem Rhythmus meist nur wenige Geräusche stehengelassen. So beherrscht die Idee von Dub die Szenerie wie früher, „weil es das Einfachste ist, was sich mit den Alsterdorfern realisieren läßt“.

Auch „1fach Denken“, der erste Song der Platte, ist so ein ruhig dahintuckerndes Stück Elektronik. Im Original war der Track, in dem Birgit Hohnen übers Denken philosophiert, eine vierzehnminütige Session. Daraus wurden knapp fünf Minuten Musik übernommen, die eine oder andere Gitarrenspur reduziert. Vom Text wurden zwei Sätze gestrichen und ansonsten nur die zwanzigsekündigen Gedankenpausen von Hohnen herausgeschnitten. Verkniffen haben sich Station 17, die Texte so zu bearbeiten, daß eine klassische Songstruktur entstanden wäre – auch wenn es sich, wie bei „1fach denken“, anbot, schmissige Sätze wie „Wie man denkt, weiß ich. Aber wie sammelt man Gedanken?“ mit dem Sampler zum Refrain zu kneten.

Das ist das eine: den Mittelweg finden zwischen dem authentischen Ausdruck der Behinderten und den einschränkenden musikalischen Denkstrukturen Nichtbehinderter. Das andere ist die Sichtbarmachung genau dieser Diskrepanz.

„Vernichtungsmaid“ entstand, als Hannelore Friedrichs auf der Gitarre versuchte, etwas nachzuspielen. Unter ihren Händen entstand ein düster knallender Gitarrenlick, der bei Boysen wiederum die Textassoziation „Engel der Vernichtung“ hervorrief. Anschließend stellte sich heraus, daß sie „Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit“ nachgespielt hatte.

In der endgültigen Version singt Karl-Heinz Hille nun „Engel der Vernichtung“ und Teile des Originaltextes von Tony Marschall, während Friedrichs' Gitarre fies daherschabt.

Die Abstufungen zwischen diesen beiden Umsetzungsformen sind fließend. Während Willy Müllers und Karl-Heinz Otts Version von „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ nahezu unbearbeitet blieb, spielen auf „Ich und ich“ ausschließlich „Normalo-Musiker“ zu den wenigen, sich monoton wiederholenden Worten von Andreas Lehrke. Wenn „Scheibe“ eines beweist, so dieses: Die „Differenzen“ zwischen geistig behinderten Musikern und sogenannten nichtbehinderten Musikern müssen niemanden vom Musikmachen abhalten. Irgendwann hat sich zwar auch Boysen gefragt, „wieso wir zusammenarbeiten können, obwohl wir so weit auseinander sind“. Doch die Frage blieb unbeantwortet. Wahrscheinlich ist sie auch nicht so wichtig.

Station 17 auf Tour: 14.11. Hannover, 25.11. Hamburg, 26.11. Göttingen, 1.12. Rostock, 2.12. Bremen, 3.12. Würzburg, 4.12. Köln, 9.12. Bochum, 10.12. Leipzig, 11.12. Berlin, 12.12. Dresden, 17.12. Mannheim, 18.12. Zürich, 19.12. Schorndorf, 20.12. Schweinfurt